Eine skandalöse Lady
ausgeschlossen fühlte. Als er an einem kalten, regnerischen Abend in der Bibliothek Zuflucht suchte, bot sich ihm ein Anblick, den er nie zuvor gesehen hatte: Seine Tochter … las!
Allegra saß in einen hohen Lehnstuhl gekuschelt, die bestrumpften Füße auf einem Hocker vor dem Kamin, die Nase in ein Buch gesteckt, während Mirabella auf ihrem Schoß schlief.
Hayden blieb auf der Türschwelle stehen, unfähig, die seltene Gelegenheit nicht auszunutzen, sie eingehend zu betrachten. Wenn Allegra seine Anwesenheit ahnen würde, würde sie gewiss weglaufen.
Ihr Gesicht hatte seine bleiche Farbe verloren. Ihr tägliches Herumtollen mit Lottie und Harriet hatte eine zarte Röte auf ihre Wangen gezaubert, und durch die ausgedehnten Teegesellschaften am Nachmittag hatte sie ein wenig zugenommen. Ein blaues Samtband hielt ihr die schimmernden Haare aus der Stirn. Hayden hatte zugesehen, wie Lottie sie abends vor dem Feuer bürstete, begleitet von lustigem Geplauder, während sie mit jedem Bürstenstrich die widerspenstigen Locken bearbeitete, bis sie knisterten und glänzten.
So erstaunlich all diese Veränderungen auch waren, die größte Verwandlung hatte in der Miene seiner Tochter stattgefunden. In ihren Augen lauerte nicht länger Argwohn, und ihre Lippen waren nicht mehr zu einem trotzigen Schmollen verzogen.
Während Hayden die Klarheit ihres Profils studierte, erkannte er mit einem bedauernden Kopfschütteln, dass er es bald schon mit einer jungen Schönheit zu tun haben würde. Er hatte immer geglaubt, sie würde nie heiraten, obwohl er in Wahrheit ihre Verehrer mit einem Stock würde vertreiben müssen.
Obwohl Hayden zuerst auf der Stelle wieder umkehren wollte, ehe sie ihn bemerkte, veranlasste ihn irgendetwas, sich zu räuspern.
Allegra schrak zusammen und schaute auf. Ihre Augen weiteten sich, und schuldbewusste Röte stieg ihr in die Wangen. »Vater! Ich habe dich gar nicht hereinkommen hören. Ich habe nur gerade … für den Unterricht morgen gelernt.«
Als Hayden näher kam, versuchte sie, das Buch hinter ihrem Rücken zu verstecken.
Bevor es ihr gelang, nahm er es ihr ab. »Was lernst du denn? Geschichte? Latein? Geographie?« Er hielt das Buch in den Feuerschein und erkannte, dass es sich um einen der billigen Heftromane handelte, die an den Straßenecken Londons verkauft wurden. Sie waren dazu gedacht, die anrüchigen Freuden des Schauerromans auch ärmeren Leserschichten zugänglich zu machen, die sich gebundene Bücher nicht leisten konnten.
»Das Turmgespenst}«
Er blätterte das Buch flüchtig durch. »Entführung, Mord, Geister und andere Schändlichkeiten. Das klingt mir sehr erhellend. Und was ist das?«, fragte er, als er einen weiteren Band zwischen Sitzpolster und Armlehne entdeckte. Er nahm es, schlug es auf und studierte die handkolorierte Abbildung eines als Tod verkleideten Fechters, der seinem Gegner einen abgeschlagenen Kopf entgegenstreckte. »Hm.
Die Höhle des Grauens
? Sieht mir nicht nach einem sonderlich einladenden Ort aus, was?«
Allegra setzte die verstimmte Mirabella auf den Teppich vor dem Kamin ab, stand auf und nahm ihm beide Bücher aus der Hand. »Ich wollte sie Lottie zurückbringen. Sie muss sie letzte Nacht hier gelassen haben.«
Innerlich applaudierte Hayden Lottie für ihr geschicktes Vorgehen. Wenn sie die Heftchen hier hatte liegen lassen, dann gewiss absichtlich, damit Allegra sie fand, in der Hoffnung, ihren Appetit auf das Lesen zu wecken.
»Geh nicht!«, bat er, als Allegra sich umdrehte. »Bitte!«, fügte er leise hinzu, damit sie wusste, es war kein Befehl sondern sein Wunsch. »Ich war auf der Suche nach einem Buch, mit dem ich mir ein wenig die Zeit vertreiben kann.« Er streckte die Hand aus und deutete auf
Die Höhle des Grauens.
»Darf ich?«
Ihn weiter misstrauisch musternd, reichte ihm Allegra das Buch und setzte sich wieder auf ihren Platz. Hayden ließ sich ihr gegenüber nieder, streifte sich seine Schuhe ab und legte seine Füße auf die Ottomane. Er schlug die erste Seite von
Die Höhle des Grauens
auf und tat so, als bemerkte er das verwunderte Stirnrunzeln nicht, mit dem seine Tochter immer wieder von ihrem eigenen Buch auf und zu ihm blickte.
Er musste nicht lange Interesse heucheln. Nach nur wenigen Seiten war er merkwürdig gefesselt von der komplizierten Geschichte über Mord und Totschlag.
Bald waren er und Allegra so in ihre Lektüre vertieft, dass sie Lottie nicht wahrnahmen, die auf der Türschwelle zur Bibliothek stehen
Weitere Kostenlose Bücher