Eine skandalöse Versuchung
nicht ehrlich zu ihr war. In diese Richtung erstreckte sich ein unüberschaubarer Morast von Unwägbarkeiten, in dem sie keinesfalls versinken wollte.
Genau diese Art von Situation war es nämlich, die ihre entschiedene Haltung gegen die Ehe maßgeblich prägte.
Sie schlenderte weiter ziellos durch den Saal, hielt hier und dort kurz inne, um einige Bekannte zu begrüßen, und entdeckte plötzlich direkt vor ihr in der Menge ein Paar überaus vertrauter Schultern.
Scharlachrot gekleidet - ganz so wie damals. Als hätte er ihren Blick gespürt, drehte sich der Gentleman um und erblickte Leonora. Er lächelte.
Hocherfreut kam er auf sie zu und streckte ihr beide Hände entgegen. »Leonora! Wie schön, Sie zu sehen.«
Sie erwiderte sein Lächeln und reichte ihm ihre Hände. »Mark. Wie ich sehe, sind Sie noch nicht aus der Armee ausgetreten.«
»Nein, nein. Keineswegs. Ich bin der militärischen Laufbahn treu ergeben.« Braune Haare, helle Haut und an seiner Seite eine Frau, die er in die Unterhaltung mit einbezog. »Darf ich vorstellen, das ist meine Frau Heather.«
Leonoras Lächeln wäre um ein Haar brüchig geworden, aber Heather Whorton lächelte freundlich zurück und reichte ihr die Hand. Falls sie sich daran erinnerte, dass Leonora die Frau war, mit der ihr Mann verlobt gewesen war, bevor er um ihre Hand angehalten hatte, so ließ sie es sich nicht anmerken. Leonora entspannte sich allmählich, und ihr wurde - zu ihrer Überraschung - eine ausschweifende Erzählung über das Whorton’sche Familienleben der vergangenen sechs Jahre beschert, von der Geburt ihres ersten Kindes bis hin zur Niederkunft mit dem vierten, von den strengen Anforderungen des Militäralltags bis hin zu den langen Trennungen, unter denen Militärfamilien zu leiden hatten.
Sowohl Mark als auch Heather trugen zu der Unterhaltung bei; man konnte unmöglich übersehen, wie sehr Heather von ihrem Ehemann Mark abhängig war. Sie hielt seinen Arm fest umklammert, doch vor allem schien sie völlig auf ihren Mann und ihre Kinder fixiert zu sein - ja, sie schien ihre eigene Identität geradezu aufgegeben zu haben.
In Leonoras Bekanntenkreis war dies keineswegs die Regel.
Während sie zuhörte, höflich lächelte und ab und zu einen angemessenen Kommentar einfließen ließ, wurde ihr nach und nach bewusst, wie schlecht sie und Mark tatsächlich zueinandergepasst hätten. Seine Reaktion auf Heathers Verhalten machte unmissverständlich klar, wie sehr er ihre Abhängigkeit genoss - ein Abhängigkeitsverhältnis, das sich zwischen ihm und Leonora niemals ergeben hätte, das sie selbst niemals zugelassen hätte.
Ihr war schon vor langer Zeit klar geworden, dass sie Mark nie wirklich geliebt hatte; zum Zeitpunkt ihrer Verlobung war sie zarte und überaus naive siebzehn Jahre alt gewesen - sie hatte geglaubt,
dasselbe zu wollen, was alle jungen Ladys wollten, sogar leidenschaftlich begehrten, nämlich einen gut aussehenden Ehemann zu ergattern. Wenn sie ihm jetzt so zuhörte und sich zurückerinnerte, konnte sie sich mühelos eingestehen, dass sie nicht ihn selbst geliebt hatte, sondern vielmehr die Vorstellung des Verliebtseins, die Vorstellung zu heiraten und einen eigenen Haushalt zu führen. Auf der Suche nach dem Heiligen Gral aller jungen Mädchen.
Sie lauschte, beobachtete und sendete ein stummes Dankgebet zum Himmel - sie war ihrem Schicksal glücklich entronnen.
Entspannt schritt Tristan die Stufen zu Lady Catterthwaites Ballsaal hinunter. Er traf etwas später ein als sonst; eine Nachricht von einem seiner Kontaktmänner hatte einen neuerlichen Besuch im Hafenviertel unabdingbar gemacht - es war bereits dunkel gewesen, als er nach Trentham House zurückgekehrt war.
Auf der vorletzten Stufe blieb er stehen und hielt nach Leonora Ausschau, konnte sie jedoch nirgends entdecken. Stattdessen erspähte er ihre beiden Tanten. Mit einem unguten Gefühl betrat er den Ballsaal und wandte sich umgehend den älteren Herrschaften zu.
Umgetrieben von dem Zwang, Leonora schnellstens zu finden - ein drängender Impuls, der ihn in seiner Intensität erschreckte.
Das Intermezzo des vergangenen Abends, die Erklärung, die er ihr geliefert hatte, nämlich dass sie - und zwar nur sie - dazu in der Lage wäre, seine Bedürfnisse zu befriedigen, hatte lediglich dazu geführt, sein wachsendes Gefühl von Verwundbarkeit noch zu betonen und zu verstärken. Er hatte das Gefühl, leichtfertig in einen Kampf zu ziehen, obgleich ihm ein Teil seiner
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