Eine skandalöse Versuchung
lesen, dass ich mit zwanzig in die Armee eingetreten und zum Major der Garde aufgestiegen bin. Dort ist auch das entsprechende Regiment vermerkt. Wenn man allerdings die Soldaten dieses Regiments nach mir fragen würde, bekäme man von den meisten überhaupt keine Antwort und andere würden behaupten, dass sie mich schon seit der Zeit kurz nach meinem Eintritt nicht mehr gesehen hätten.«
»Und bei welchem Regiment warst du? Nicht bei der Kavallerie.«
»Nein. Auch nicht bei der Infanterie oder bei der Artillerie.«
»Aber du sagtest doch, du wärst bei Waterloo dabei gewesen.«
»Das war ich auch.« Er hielt ihrem Blick stand. »Ich war auf dem Schlachtfeld - allerdings nicht bei unseren eigenen Truppen.« Er beobachtete, wie ihre Augen sich weiteten, dann fuhr er leise fort. »Ich war hinter der feindlichen Linie.«
Sie blinzelte; dann starrte sie ihn voller Faszination an. »Du warst ein Spion ?«
Er verzog leicht das Gesicht und sah geradeaus. »Ein Agent im inoffiziellen Dienst für die Regierung Seiner Majestät.«
Eine Flut von Gedanken stürzte auf sie ein - Beobachtungen, die plötzlich einen Sinn ergaben, verschiedene Dinge, die ihr nun weitaus weniger mysteriös erschienen -, aber was sie am allermeisten interessierte, war die Frage, was diese Enthüllung über ihn aussagte, über seinen Charakter. »Das muss furchtbar einsam gewesen sein. Und entsetzlich gefährlich.«
Tristan blickte sie an; er hätte niemals erwartet, dass sie etwas
Derartiges sagen, in diese Richtung denken würde. Seine Gedanken schweiften über die Jahre zurück. Er nickte. »Ja, häufig.«
Er wartete - auf all die voraussehbaren Fragen. Doch sie blieben aus. Ihr Gang hatte sich verlangsamt; Henrietta bellte ungeduldig und zog an der Leine. Er und Leonora tauschten einen knappen Blick aus; sie lächelte, hielt seinen Arm noch etwas fester, dann kehrten sie zügigen Schrittes im Bogen nach Belgravia zurück.
Sie wirkte nachdenklich; fern und abwesend, doch keineswegs bestürzt, verärgert oder besorgt. Als sie seinen Blick auf sich spürte, sah sie zu ihm auf, erwiderte seinen Blick und lächelte, um dann erneut nach vorn zu sehen.
Sie überquerten die Hauptstraße und gingen weiter, bis sie schließlich den Montrose Place erreichten. Am Eingangstor von Nummer vierzehn angekommen, stieß er das Gitter weit auf und ließ sie hindurchtreten; dann folgte er ihr. Sie blieb stehen, um sich bei ihm einzuhaken, noch immer tief in Gedanken versunken.
Vor den Stufen der Eingangstreppe blieb er stehen. »Ich werde dich hier verlassen.«
Sie sah zu ihm auf, nickte und übernahm Henriettas Leine. Sie erwiderte seinen Blick - ihre Augen waren von strahlendstem Blau. »Danke.«
Der Ausdruck in jenen veilchenblauen Augen verriet ihm, dass sie damit nicht allein seine Hilfe mit der Hündin meinte.
Er nickte und steckte seine Hände in die Manteltaschen. »Ich werde noch heute jemanden nach York schicken. Ich nehme an, du wirst heute Abend Lady Manivers Ball besuchen?«
Ihre Mundwinkel zuckten nach oben. »In der Tat.«
»Dann sehe ich dich dort.«
Sie sah ihn einen Moment lang an, dann neigte sie den Kopf. »Bis später.«
Sie drehte sich um. Er sah zu, wie sie hineinging, und wartete, bis die Tür sich hinter ihr geschlossen hatte, dann wandte er sich um und ging davon.
Ihr Umgang mit Tristan, so Leonoras Urteil, verkomplizierte sich zusehends.
Am folgenden Morgen rekelte sie sich in ihrem Bett und betrachtete die Muster, welche das Sonnenlicht an ihre Decke zeichnete. Zugleich versuchte sie sich Klarheit darüber zu verschaffen, was genau da eigentlich zwischen ihnen geschah. Zwischen Tristan Wemyss - Exspion beziehungsweise Exagent im inoffiziellen Dienst für die Regierung Seiner Majestät - und ihr.
Sie hatte geglaubt, sie würde die Antwort bereits kennen, doch Tag für Tag, Nacht für Nacht enthüllte er ihr weitere nicht widersprüchliche, aber tiefer greifende und faszinierendere Aspekte seiner Persönlichkeit. Charaktereigenschaften, von denen sie niemals geahnt hätte, dass er sie besaß, und die sie zudem überaus anziehend fand.
Der vergangene Abend war schon wieder nach dem üblichen Schema verlaufen. Sie hatte zumindest versucht, enthaltsam zu bleiben - wenn auch eher halbherzig; die nachmittäglichen Enthüllungen hatten sie einfach zu sehr abgelenkt. Aber im Vergleich zu sonst hatte er nur noch entschlossener, noch schonungsloser danach gedrängt, ihren Widerstand zu brechen und sie sich zu nehmen.
Er hatte
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