Eine skandalöse Versuchung
Bedürfnis, erneut auf und ab zu laufen. Mit einem flüchtigen Blick auf sie versuchte er, wieder einen klaren Kopf zu bekommen, zumindest so weit, dass er einigermaßen vernünftig mit ihr kommunizieren konnte.
Worte, die zu hitzig und zu brutal waren, als dass er sie hätte laut aussprechen können, versengten ihm die Zunge.
Worte, von denen er wusste, dass er sie bereuen würde, sobald sie ihm über die Lippen kämen.
Er musste sich konzentrieren. Mit aller ihm zur Verfügung stehenden Professionalität zwang er sich, gnadenlos zum Kern der Sache vorzustoßen. Alle Schleier schonungslos herunterzureißen und der kalten, harten Wahrheit - der unumstößlichen Realität, auf die es einzig und allein ankam - unmittelbar ins Auge zu blicken.
Er blieb abrupt stehen und atmete gezwungen ein. Dann drehte er sich jäh um und sah ihr direkt in die Augen. »Du bedeutest mir etwas.« Er musste die Worte geradezu hervorzwingen; sie klangen rau und kratzig. »Und zwar nicht nur ein bisschen, sondern unendlich viel. Du bedeutest mir sehr viel mehr als irgendjemand oder irgendetwas sonst in meinem ganzen Leben.«
Er zwang sich zu atmen, den Blick unverwandt auf sie gerichtet. »Wenn einem jemand etwas bedeutet, heißt das, dass man einen Teil von sich selbst, und sei es auch noch so widerwillig, in die Obhut des anderen gibt. Die Person, die einem so unendlich wichtig ist, wird zu einer Art Schatztruhe, in der dieser besagte Teil von einem selbst«, er hielt ihren Blick gebannt, »dieser unermesslich wertvolle, dieser unbeschreiblich wichtige Teil von einem selbst aufbewahrt wird. Und zugleich wird diese Person für einen ganz genauso wichtig - unbeschreiblich und unermesslich wichtig.«
Er schwieg; fügte dann leiser hinzu. »So wichtig, wie du für mich.«
Die Uhr tickte; ihre Blicke blieben fest aufeinander gerichtet. Keiner rührte sich.
Schließlich bewegte er sich. »Ich habe wirklich alles getan, was ich kann, um es dir zu erklären, um es dir begreiflich zu machen.«
Sein Ausdruck war mit einem Mal verschlossen; er wandte sich zum Gehen.
Leonora versuchte, sich zu erheben. Vergeblich. »Wo willst du hin?«
Mit einer Hand am Türgriff drehte er sich zu ihr um. »Ich gehe. Ich werde deine Zofe zu dir schicken.« Seine Worte klangen hart, doch im Hintergrund schwangen heftig brodelnde Gefühle mit. »Wenn du endlich dazu bereit bist, jemandem wichtig zu sein - dann weißt du, wo du mich findest.«
»Tristan …«
Sie wandte sich mühevoll um und hob ihre Hand.
Doch die Tür fiel ins Schloss. Ein Klang von Endgültigkeit erschütterte den gesamten Raum.
Sie starrte eine ganze Weile die Tür an, dann ließ sie sich zurücksinken und seufzte. Sie schloss die Augen. Sie wusste ganz genau, was geschehen war. Sie musste es dringend ungeschehen machen.
Aber nicht jetzt. Nicht heute.
Sie fühlte sich sogar zu schwach zum Denken. Und sie musste
nachdenken, planen, sich die richtigen Worte zurechtlegen, um ihren verwundeten Wolf zu besänftigen.
Die nächsten drei Tage schienen nicht mehr als eine endlose Aneinanderreihung von Entschuldigungen.
Harriet zu verzeihen, fiel ihr nicht allzu schwer. Die Ärmste war derart aufgelöst gewesen, als sie Leonora bewusstlos auf dem Fliesenboden liegen sah, dass sie einfach hysterisch losgeplappert hatte. Die kleinste Bemerkung über frühere Angriffe auf Leonora hatte ausgereicht, um Tristans Aufmerksamkeit zu erregen. Er hatte ihr hemmungslos alle Informationen entlockt und sie dadurch nur noch mehr aufgewühlt.
Als Leonora sich mittags nach einer Tasse Suppe - das Einzige, was sie sich überhaupt vorstellen konnte zu essen - in ihr Bett begeben wollte, half Harriet ihr die Treppe hinauf und in ihr Zimmer, ohne auch nur einen Ton zu sagen, sogar ohne sie anzublicken oder auch nur flüchtig aufzusehen.
Mit einem innerlichen Seufzer ließ sich Leonora auf die Bettkante sinken und ermunterte Harriet, ihr all ihre Sünden, ihre Sorgen und ihren Kummer zu beichten; dann schloss sie Frieden mit ihr.
Diese Sache ließ sich mit Abstand am leichtesten aus der Welt schaffen.
Erschöpft und immer noch recht zittrig zog sie es vor, den Rest des Tages in ihrem Zimmer zu verbringen. Ihre Tanten kamen zwischendurch vorbei, doch nachdem sie einen Blick auf ihr Gesicht geworfen hatten, fassten sie sich kurz. Leonora bestand allerdings darauf, dass sie niemandem von dem Angriff erzählten; wenn sich irgendjemand nach ihr erkundigte, sollten sie einfach sagen, sie sei unpässlich.
Am
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