Eine skandalöse Versuchung
Gentleman. Theoretisch geziemte es sich nicht, sie zu drängen, es sei denn, sie ermunterte seine Avancen.
Auf ihren Lippen formte sich ein zynisches Lächeln; sie unterdrückte ein leises Schnauben. Sie mochte vielleicht unerfahren sein, aber sie war beileibe nicht dumm. Er hatte den Kuss gewiss nicht unterbrochen, weil er sich den gesellschaftlichen Normen gemäß dazu verpflichtet fühlte. Er hatte ihn unterbrochen, um sie gezielt zu umgarnen, um ihr Bewusstsein zu kitzeln, um ihre Neugier anzustacheln.
Um ihre Lust zu wecken.
Nur damit sie sich umso bereitwilliger fügen würde, wenn es
ihn schließlich danach verlangte - besser gesagt, wenn es ihn nach mehr verlangte, wenn er mit ihr einen Schritt weiter gehen wollte.
Verführung . Das Wort kam ihr plötzlich in den Sinn, versprach ihr verbotene Reize und Abenteuer.
Wollte Trentham sie verführen?
Ihr war durchaus bewusst, dass sie nicht unattraktiv war; sie hatte schon immer leicht die Blicke der Männer auf sich ziehen können. Aber bislang hatte sie dieser Tatsache wenig Beachtung geschenkt; sie zeigte keinerlei Interesse an den üblichen Spielchen. Oder vielmehr an den Spielern.
Sie war inzwischen sechsundzwanzig Jahre alt und damit, zum großen Unmut ihrer Tante Mildred, ein eindeutig hoffnungsloser Fall.
Trentham war urplötzlich aufgetaucht und hatte ihre Sinne wachgerüttelt, nur um sie unbefriedigt nach mehr hungern zu lassen. Ein unbekanntes Verlangen hatte sich ihrer bemächtigt, doch sie war sich alles andere als sicher, was sie eigentlich von ihm erwartete - wie sie sich ihr weiteres Verhältnis vorstellte.
Sie holte tief Luft und atmete langsam aus. Sie musste jetzt noch keine Entscheidung treffen. Sie konnte getrost abwarten, beobachten, lernen - und sich auf ihren Instinkt verlassen, um schließlich herauszufinden, ob sie den Weg, der sich ihr darbot, auch wirklich gehen wollte; sie hatte ihn nicht abgewiesen, sie hatte ihn auch keineswegs glauben lassen, sie sei nicht interessiert.
Denn das war sie durchaus. Sehr interessiert sogar.
Sie war fest davon ausgegangen, dass dieser Aspekt des Lebens sang- und klanglos an ihr vorübergezogen war, dass die Umstände ihr diese spezielle Erfahrung für immer vorenthalten würden.
Heirat war für sie kein Thema mehr - aber vielleicht hatte das Schicksal ihr Trentham geschickt, um sie ein wenig über diese Tatsache hinwegzutrösten.
Als Leonora sich umdrehte und Trentham quer durch den Salon auf sich zukommen sah, hallten diese Worte in ihren Ohren nach.
Wenn dies ihr Trost war, wie hoch war der Preis?
Trenthams breite Schultern waren in edles Schwarz gehüllt, sein Jackett war ein Meisterwerk an schlichter Eleganz. Seine graue Seidenweste glänzte sanft im Kerzenschein; auf seiner Krawatte funkelte eine diamantenbesetzte Anstecknadel. Wie sie es inzwischen von ihm kannte, verzichtete er bewusst auf auffällige Details. Seine Krawatte war auf schlichte Art gebunden. Sein glänzendes dunkelbraunes Haar war sorgfältig frisiert und umrahmte wirkungsvoll seine markanten Gesichtszüge; alle Aspekte seiner Erscheinung - seine Kleidung, sein selbstsicheres Auftreten, seine Umgangsformen - machten unmissverständlich deutlich, dass er den obersten gesellschaftlichen Kreisen angehörte; er war es gewohnt zu befehlen und gewohnt, dass man ihm gehorchte.
Gewohnt, seine Wege selbst zu bestimmen.
Sie knickste und reichte ihm die Hand. Er nahm sie und verneigte sich. Indem er sich aufrichtete, bedeutete er ihr, das Gleiche zu tun. Seine Brauen waren leicht hochgezogen.
Seine Augen funkelten sie herausfordernd an.
Leonora lächelte, bereit sich der Herausforderung zu stellen; sie wusste, dass sie in ihrem aprikosenfarbenen, seidenen Abendkleid gut aussah. »Erlauben Sie, dass ich Sie den anderen Gästen vorstelle, Mylord?«
Er neigte den Kopf, legte ihre Hand auf seinen Arm und seine eigene darüber.
Unverhohlen besitzergreifend.
Ohne die geringste Reaktion zu zeigen, führte sie ihn gelassen hinüber zu Humphrey und zweien seiner Freunde, Mr Morecote und Mr Cunningham, die bereits in eine angeregte Diskussion vertieft waren. Sie unterbrachen ihr Gespräch, um Trentham zu begrüßen und einige Worte mit ihm zu wechseln; dann führte Leonora ihn weiter zu Jeremy, Mr Filmore und Mr Horace Wright, um ihn den beiden Letzteren ebenfalls vorzustellen.
Sie hatte vorgehabt, einige Zeit bei der Gruppe zu verweilen, um Horace, dem lebhaftesten ihrer Wissenschaftlerfreunde, die Gelegenheit
zu geben, sie
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