Eine Socke voller Liebe
Paternoster mitzusingen: „…et dimitte nobis debita nostra,
sicut et nos dimittimus debitoribus nostris…“
„…und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern
Schuldigern…“ An dieser Stelle kniff sie ihre Lippen fest zusammen.
Nach dem Gottesdienst steuerten die Freundinnen auf die
kleine, gemütliche Gaststube zu, die ihnen bei ihrem Rundgang aufgefallen war.
Bevor sie die Eingangstür erreichten, drehte Andrea sich um. Irgendjemand hatte
ihr auf die Schulter getippt. Verwundert blickte sie in zwei stahlblaue Augen.
„Schön, dass wir uns hier wieder treffen“, sagte der ‚Blauäugige‘,
„dürfen wir euch zu einem Cerveza einladen?“
Sabine und Andrea schauten sich an, lachten und sagten wie
aus einem Munde: „Ja, gerne.“
Sabine freute sich sehr über die Gesellschaft der Männer, die
Abwechslung versprach und sie von ihren Gedanken ablenken würde.
Da im Gastraum alle Tische besetzt waren, blieben sie an der
Theke stehen. Der Blauäugige stellte sich als Michael vor. Er war mit seinen
Freunden Hubert und Sebastian heute Morgen in Saint Jean angekommen und gleich
losgelaufen. Die drei Männer erzählten, dass sie bis ans Meer, nach Finisterre
laufen wollten, also ab Santiago de Compostela noch etwa einhundert Kilometer
weiter.
Hubert war der Älteste von ihnen. Er sprach einen urigen,
bayrischen Dialekt und bemühte sich um eine verständliche Aussprache. Er
erzählte, dass er sich das Geld für diese Reise zu seinem sechzigsten
Geburtstag hatte schenken lassen. Er begann seinen Vorruhestand mit dem
Pilgerweg.
Andrea registrierte, dass seine beiden Freunde mindestens
zehn Jahre jünger waren und fragte neugierig nach.
„Ja, ja, wir müssen mindestens noch sechzehn Jahre arbeiten“,
erwiderte Sebastian, „und weil in unserer Firma gerade immense Umbaumaßnahmen
stattfinden, haben wir die Gelegenheit ergriffen, angesammelten Urlaub
abzubauen.“
Wie es ist, wenn man neue Menschen kennen lernt, die einem
sympathisch sind, plauderten sie angeregt miteinander, und der Abend verging
wie im Fluge.
Um viertel vor zehn ertönte im Schlafsaal eine Ansage durch
den Lautsprecher. Als erstes die Vorwarnung, dass das Licht in einer
Viertelstunde ausgeschaltet würde. Die zweite Info bestand darin, dass am
nächsten Morgen um sechs Uhr der Weckruf ertönen würde und spätestens bis um
acht alle Pilger das Refugio verlassen haben müssten.
Sabine und Andrea lagen bereits auf ihren Betten und konnten
sich das Kichern nicht verkneifen.
„Ich komme mir vor wie früher in einer Jugendherberge“, sagte
Sabine und setzte sich aufrecht hin, „guck mal, Andrea. Von hier oben hat man
einen tollen Rundblick über all die schnarchenden Gestalten in ihren
Schlafsäcken und die Reizwäsche, die überall auf den Bettgestellen hängt.“
„Sei mal bitte still“, bat Andrea und horchte, „unter mir
schnarcht wirklich jemand laut und deutlich.“
Sie kletterte aus dem Bett. Beim Heruntersteigen fielen ihr
gewaschener Slip und das Shirt auf den Schlafsack des unten Liegenden. Sie bat
den Schnarcher, sich auf die Seite zu legen, um nicht so laut zu schnarchen und
sammelte ihre Wäschestücke wieder auf.
Der Mann sah sie total entgeistert an, verstand aber
offensichtlich kein Wort. Als sie ihre Bitte auf Englisch wiederholte, drehte
er sich knurrend auf die Seite.
Andrea prustete vor Lachen, als sie wieder im oberen Bett
angelangt war und ihre Sachen aufhängte: „Der hat mich angeguckt, als wäre ich
ein Gespenst. Das hättest du sehen sollen.“
Sabine ließ sich von Andreas Gelächter anstecken. Alles war
plötzlich komisch: Das Pilgern und der riesige Schlafsaal und sie beide mitten
drin. Hinter vorgehaltener Hand versuchten sie, ihr Lachen einzudämmen. Aber
immer, wenn eine aufhörte, fing die andere wieder an.
Nach einigen Minuten hörten sie aus einiger Entfernung ein
unterdrücktes Kichern und dann noch eines. Wahrscheinlich ging es anderen
genauso. Die Lacher im großen Schlafsaal vermehrten sich im Dominoeffekt bis
plötzlich ein ärgerlicher Ruf durch die heiligen Hallen erscholl: „Ruhe!!!
Verdammt noch mal!“
Das Licht ging aus. Ganz langsam verebbte auch das Lachen.
Was war denn eigentlich so lustig gewesen?
Die Freundinnen kicherten sich leise in den Schlaf.
Sabine greift nach der Hand ihres Vaters. Erführt sie
langsam über den roten Teppich zu Markus. Er wartet vor dem Altar auf sie, an
der kleinen Gebetsbank, die für die Brautleute aufgestellt worden ist.
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