Eine Spur von Verrat
sie. Das würde ihrer Auffassung von Ehrgefühl entsprechen. Aber was könnte es sein? Ich kann mir absolut nichts vorstellen, das so so schrecklich ist, so grauenhaft…« Sie verstummte kläglich, unfähig, ihre Gedanken in die richtigen Worte zu kleiden.
»Ich auch nicht. Aber es existiert – es muß existieren. Weshalb sollte Alexandra sonst so hartnäckig schweigen?«
»Ich habe keine Ahnung.« Edith legte den Kopf auf die Knie. In dem Moment ertönte ein nervöses, nachdrückliches Klopfen.
Edith blickte überrascht auf. Dienstboten klopften nicht.
»Ja?« Sie entwirrte ihre Beine und stellte die Füße auf den Boden. »Herein.«
Die Tür schwang auf. Cassian stand auf der Schwelle, bleichgesichtig und verstört.
»Tante Edith, Miss Buchan und die Köchin streiten schon wieder!« Seine Stimme klang brüchig und ein wenig schrill.
»Die Köchin hat ein Tranchiermesser!«
»Ach…« Edith gab ein wenig damenhaftes Schimpfwort von sich und sprang auf. Cassian bewegte sich einen Schritt auf sie zu. Sie legte den Arm um seine schmalen Schultern. »Mach dir keine Sorgen, ich kümmere mich schon darum. Du bleibst hier. Hester…«
Hester stand bereits.
»Könntest du bitte mitkommen? Wir sollten besser zu zweit sein, falls es wirklich so schlimm ist, wie Cass sagt. Warte hier, Cass! Es wird schon werden, ich versprech’s dir!« Damit marschierte sie zum Zimmer hinaus und über den hinteren Teil der Galerie auf die Dienstbotentreppe zu. Sie waren noch nicht ganz dort angekommen, als sich bereits herauskristallisierte, daß Cassian sich nicht getäuscht hatte.
»Sie ham hier gar nix verlern, Sie jämmerliches, altes Waschweib! Man hätt Sie auf die Weide schicken sollen, so ’n alter klappriger Gaul wie Sie sind!«
»Und Sie hätte man gleich im Stall lassen sollen, wo Sie hingehören, Sie fette Sau«, schallte es vernichtend zurück.
»Fett also, soso. Und was für ’n Mann würd Sie schon anschaun, Sie altes, dürres Gerippe? Kein Wunder, daß Sie auf andrer Leute Kinder aufpassen müssn! Von Ihnen würd bestimmt keiner welche wolln!«
»Ach, und wo sind Ihre? Ganze Würfe wahrscheinlich! Jedes Jahr einen – kriechen auf allen vieren im Stall herum, würd mich nicht wundern. Mit Rüsseln statt Nasen und Pfoten statt Beinen!«
»Ich schneid Ihnen die Kehle durch, Sie vertrocknetes altes Weib! Ha!«
Ein Kreischen, dann Gelächter.
»Ach, Mist!« stieß Edith verärgert aus. »Das klingt schlimmer als gewöhnlich.«
»Daneben!« kam der Jubelschrei. »Sie besoffenes Schwein! Würden ja nicht mal ein Scheunentor treffen, wenn es direkt vor Ihnen war, Sie – Sie schielendes Chamäleon!«
»Aaaaah!«
Ein erneutes Kreischen, diesmal vom Küchenmädchen, und ein Schrei vom Lakaien.
Edith stolperte die letzten Stufen hinunter, Hester dicht auf den Fersen. Fast im selben Moment sahen sie die beiden: die kerzengerade Gestalt von Miss Buchan, die ihnen halb seitwärts, halb rückwärts entgegenkam, und ein paar Meter weiter die kugelrunde Köchin, die mit hochrotem Haupt drohend ein Tranchiermesser schwang.
»Ätzvettel!« brüllte sie zornentbrannt, während sie mit dem Messer gefährlich dicht vor dem Gesicht des Lakaien herumfuchtelte, der sie zu bändigen versuchte.
»Fettwanst«, holte Miss Buchan zum Gegenschlag aus und beugte sich vor.
»Schluß jetzt!« rief Edith streng. »Hört sofort auf damit!«
»Die solltn Se ganz schnell loswerden.« Die Köchin starrte Edith aufgebracht an, wedelte mit dem Messer jedoch in Miss Buchans Richtung. »Is nich gut für den armen Jungen. Armer Knirps der.«
Hinter ihnen heulte das Küchenmädchen auf wie eine Sirene und stopfte sich hastig die Zipfel ihrer Schürze in den Mund.
»Sie wissen ja nicht, wovon Sie sprechen, Sie aufgeschwemmte Mastgans, Sie!« schrie Miss Buchan zurück, das hagere, ausgemergelte Gesicht voll Wut. »Sie stopfen ihn nur den ganzen Tag mit Kuchen voll – als ob das was hilft.«
»Ruhe!« fuhr Edith vernehmlich dazwischen. »Alle beide, seid sofort still!«
»Und Sie lassn ihn den ganzen Tag nich aus ‘n Augen, Sie runzlige alte Hexe!« Die Köchin ignorierte Edith völlig und setzte ihre Tirade fort. »Lassn ihn überhaupt nich mehr in Ruh, den armen Knirps. Weiß wirklich nich, was mit Ihnen los is.«
»Wissen Sie nicht!« äffte Miss Buchan sie im Keif ton nach.
»Wissen Sie nicht! Natürlich wissen Sie’s nicht, Sie blöder alter Vielfraß. Sie wissen gar nichts! Haben nie was gewußt!«
»Sie auch nich, Sie elendes
Weitere Kostenlose Bücher