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Eine Spur von Verrat

Eine Spur von Verrat

Titel: Eine Spur von Verrat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Entschluß gefaßt, dabeizusein, doch das geschah nicht aus billiger Sensationsgier. Für gewöhnlich waren ihm solche Spektakel ebenso zuwider wie etwa ein Unfall, bei dem ein Pferd durchgegangen war, den Reiter abgeworfen und ihn zertrampelt hatte. Er hielt es für ein geschmackloses Eindringen in das private Leid eines anderen Menschen. In diesem speziellen Fall empfand er jedoch eine tiefe, persönliche Anteilnahme an dem Ausgang der Sache und hatte den Wunsch, Alexandra, den Carlyons und – wenn er einmal ganz ehrlich war – vor allem Edith durch seine Anwesenheit seine Unterstützung zu demonstrieren. Nicht, daß er es etwa zugegeben hätte, nicht einmal vor sich selbst.
    Als er sein Bein auf den Boden stellte, hatte er nicht die geringsten Probleme, das Gewicht darauf zu verlagern. Der Bruch war anscheinend vollständig geheilt. Später dann, als er es beugen wollte, um in einen Hansom zu steigen, mußte er allerdings zu seiner Demütigung feststellen, daß es unter der Bewegung nachgab, und hatte das ungute Gefühl, daß das Aussteigen noch weniger funktionieren würde. Er schämte sich und war äußerst verärgert, aber auch völlig machtlos. Offensichtlich brauchte sein Bein noch mindestens eine Woche, und sein Glück zu erzwingen hätte das Ganze nur verschlimmmert.
    Also beauftragte er Hester, ihn über den Fortgang des Prozesses auf dem laufenden zu halten, denn schließlich war sie immer noch bei ihm beschäftigt und mußte alles menschenmögliche zu seiner Erleichterung tun. Er beharrte darauf, wie entscheidend es für seine Verfassung wäre. Sie sollte ihn über alle Einzelheiten der Verhandlung informieren, nicht nur über den Inhalt der Zeugenaussagen, sondern auch über das Verhalten der Zeugen selbst und ob sie ihrer Meinung nach die Wahrheit sagten. Außerdem hatte sie nach Möglichkeit die Einstellung von jedem herauszufinden, der von der Staatsanwaltschaft oder der Verteidigung aufgerufen wurde, sowie insbesondere die der Geschworenen. Selbstverständlich sollte sie darüber hinaus auch die Namen sämtlicher Familienangehörigen vermerken, die sie entdecken konnte. Zu diesem Zweck war es vermutlich sinnvoll, wenn sie sich mit einem großen Notizblock und einigen gut gespitzten Bleistiften ausstattete.
    »Wie Sie möchten, Major«, sagte Hester gehorsam, während sie insgeheim hoffte, einen derart anspruchsvollen Auftrag auch zufriedenstellend ausführen zu können. Er verlangte eine ganze Menge, aber er war so ernst und so aufrichtig besorgt, daß sie gar nicht erst versuchte, ihn auf die Schwierigkeiten hinzuweisen, die ein solches Unterfangen mit sich brachte.
    »Ich will sowohl die Fakten als auch Ihre Meinung hören«, meinte er zum tausendsten Mal. »Die Gefühle sind das allerwichtigste dabei, müssen Sie wissen. Menschen sind nicht immer rational, vor allem in solchen Fällen nicht.«
    »Ja, ich weiß«, erwiderte Hester, was einer gewaltigen Untertreibung gleichkam. »Ich werde auf Gesichtsausdrücke achten und nach Veränderungen im Tonfall lauschen – ich verspreche es Ihnen.«
    »Gut.« Major Tipladys Wangen färbten sich hellrosa. »Ich bin Ihnen sehr verbunden.« Er senkte den Blick. »Ich bin mir vollkommen im klaren, daß es nicht zu den üblichen Pflichten einer Schwester gehört…«
    Hester konnte nur mit Mühe ein Lächeln unterdrücken.
    »Und angenehm wird es auch nicht werden«, fügte er hinzu.
    »Betrachten Sie es einfach als eine Art Rollentausch«, sagte Hester und hielt das Lächeln nicht länger zurück.
    »Wie bitte?« Er warf ihr einen raschen, verständnislosen Blick zu. Ihre Erheiterung blieb ihm nicht verborgen, aber er hatte keine Ahnung, wodurch sie entstanden war.
    »Wären Sie in der Lage gewesen hinzugehen, müßte ich Sie bitten, mir alles zu wiederholen. Nur bin ich nicht in der Position, es von Ihnen verlangen zu dürfen. So herum ist es wesentlich praktischer.«
    »Äh – ich verstehe.« Jetzt hatte auch er begriffen und mußte schmunzeln. »Schön, Sie sollten besser aufbrechen, sonst kommen Sie am Ende zu spät und finden keinen guten Platz mehr.«
    »Ja, Major. Ich komme zurück, wenn ich möglichst sicher bin, daß mir auch nichts entgangen ist. Molly hat Ihren Lunch bereits zubereitet, falls…«
    »Jaja, zerbrechen Sie sich darüber nicht den Kopf.« Er winkte ungeduldig ab. »Machen Sie schon, gute Frau.«
    »Bin schon weg, Major.«
    Sie kam, wie vermutet, zu früh. Dennoch platzte der Saal vor ungeduldigen Schaulustigen fast aus den Nähten,

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