Eine Spur von Verrat
ihrem Vater obendrein – der nicht einmal mehr lebte, um für sich selbst sprechen zu können? Weitaus schlimmer aber war, daß die schrecklichen Neuigkeiten, die mit den Postschiffen aus Indien und China eintrafen, ihre These auch noch bestätigten.
»Das war alles?« Lovat-Smith hob skeptisch die Brauen.
»Ja. Wir wechselten ein paar scharfe Worte, sonst nichts.«
»Hatte Ihre Mutter an jenem Abend mit ihm Streit?«
Hester wandte den Kopf zur Anklagebank. Alexandras Gesicht war angespannt und voll Angst, doch diese Angst galt Hesters Meinung nach Sabella, nicht sich selbst.
»Ich weiß es nicht. Ich habe nichts dergleichen gehört«, gab Sabella ausdruckslos zurück.
»Haben Sie irgendwann einmal gehört, wie Ihre Eltern sich stritten?«
»Selbstverständlich.«
»Worum ging es dabei – sagen wir, im letzten halben Jahr?«
»Vor allem darum, ob mein Bruder Cassian auf ein Internat geschickt oder zu Hause von einem Privatlehrer unterrichtet werden solle. Er ist acht Jahre alt.«
»Ihre Eltern waren unterschiedlicher Meinung?«
»Ja.«
»Sie reagierten heftig auf das Thema?« Lovat-Smith wirkte überrascht und verwirrt.
»Jawohl«, erwiderte sie scharf. »Anscheinend ließ es sie nicht kalt.«
»Ihre Mutter wollte, daß er zu Hause bei ihr blieb, während Ihr Vater fand, er sollte allmählich auf das Erwachsensein vorbereitet werden?«
»Im Gegenteil. Vater wollte ihn zu Hause behalten, Mutter wollte ihn auf die Schule schicken.«
Die Mehrzahl der Geschworenen schaute verwundert drein. Der eine oder andere drehte sich sogar nach Alexandra um.
»Was Sie nicht sagen!« Auch Lovat-Smith klang erstaunt, an derlei Einzelheiten jedoch nicht interessiert, solange er nicht danach gefragt hatte. »Gab es noch andere Streitpunkte?«
»Ich weiß es wirklich nicht. Ich wohne nicht mehr zu Hause, Mr. Lovat-Smith, und besuche meine Eltern nur unregelmäßig. Mein Vater und ich standen uns nicht besonders nahe, wie Ihnen zweifellos bekannt ist. Meine Mutter hat mich oft besucht. Mein Vater nie.«
»Ich verstehe. Aber Sie spürten, daß die Beziehung zwischen Ihren Eltern gespannt war, ganz besonders am Abend der Dinnerparty?«
Sabella zögerte und verriet damit ihre Voreingenommenheit. Hester sah, wie sich die Gesichter der Geschworenen verhärteten, als ob irgendwo in ihrem Innern eine Tür zugefallen wäre; von nun an würden sie ihre Antworten anders bewerten. Einer von ihnen drehte sich um, schaute Alexandra neugierig an und wandte sich sofort wieder ab, als hätte man ihn beim Voyeurismus ertappt. Auch das war eine verräterische Geste.
»Mrs. Pole?« rief Lovat-Smith sich in Erinnerung.
»Natürlich habe ich es gespürt. Alle spürten es.«
»Und aus welchem Grund? Denken Sie sorgfältig nach: so wie Sie Ihre Mutter kennen, nachdem Sie beide einander derart verbunden sind – hat sie irgend etwas gesagt, das auf den Grund ihrer Erbitterung schließen ließ?«
Rathbone hatte sich bereits zur Hälfte erhoben, doch dann fing er den Blick des Richters auf und setzte sich wieder hin. Den Geschworenen war das Zwischenspiel nicht entgangen; ihre Gesichter leuchteten vor Erwartung.
»Wenn zwei Menschen unglücklich miteinander sind«, sagte Sabella sehr leise, »muß es nicht immer einen bestimmten Grund für jede Auseinandersetzung geben. Mein Vater war zuweilen ziemlich tyrannisch, ein regelrechter Diktator. Der einzig mir bekannte Streitpunkt war Cassian und seine Einschulung.«
»Sie wollen uns doch wohl nicht glauben machen, Ihre Mutter hätte Ihren Vater wegen seiner Entscheidung über die schulische Erziehung seines Sohnes ermordet, Mrs. Pole?« Lovat-Smiths gewinnende, kultivierte Stimme verströmte eine Ungläubigkeit, die beinah beleidigend wirkte.
Alexandra beugte sich impulsiv auf der Anklagebank vor, und die Wärterin neben ihr tat es auch, als ob sie tatsächlich über die Brüstung springen und verschwinden könnte. Die Leute auf der Galerie konnten es nicht sehen, aber die Geschworenen zuckten zusammen.
Sabella gab keine Antwort. Ihr sanftes, ovales Gesicht verschloß sich. Sie starrte ihn einfach an, wußte nicht, was sie sagen sollte, und scheute gleichzeitig davor zurück, einen Fehler einzugestehen.
»Vielen Dank, Mrs. Pole. Ich denke, wir haben verstanden.« Lovat-Smith lächelte zufrieden und räumte die Bühne für Rathbone.
Sabella war sichtlich auf der Hut; mit hochroten Wangen schaute sie dem Strafverteidiger entgegen.
Rathbone lächelte ihr freundlich zu. »Mrs. Pole, Sie
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