Eine Spur von Verrat
unverwandt auf Rathbone gerichtet. Alexandra hätte ebensogut abwesend sein können, so wenig Aufmerksamkeit ließ er ihr zukommen.
»Überlassen Sie Mrs. Carlyons Interessen getrost mir«, versicherte ihm Rathbone. »Ich bin hier, um sie zu vertreten. Beantworten Sie bitte die Frage. Wie hat sie sich verhalten? Hat sie geschrien?« Er lehnte sich etwas zurück und starrte mit weit aufgerissenen Augen zu Hargrave empor. »Fiel sie in Ohnmacht, bekam sie Krampfanfälle?« Er spreizte die Hände.
»Warf sie sich wild hin und her, hatte sie Halluzinationen? Auf welche Weise benahm sie sich hysterisch?«
Hargrave stieß einen ungeduldigen Seufzer aus. »Sie zeichnen hier ein überaus laienhaftes Bild der Hysterie, wenn mir die Bemerkung erlaubt ist. Der Begriff Hysterie beschreibt einen Zustand, der durch geistigen Kontrollverlust gekennzeichnet ist, nicht zwingenderweise ein körperlich unkontrolliertes Verhalten.«
»Woher wußten Sie, daß Mrs. Carlyons Geist außer Kontrolle war, Dr. Hargrave?« erkundigte sich Rathbone ungemein höflich. Monk, der ihn genauestens beobachtete, wäre Hargrave am liebsten an die Kehle gegangen und hätte ihn vor den Geschworenen in Stücke gerissen. Der klügere Teil seines Ich wußte jedoch, daß er sich ihre Sympathien dadurch nur verscherzen würde, und genau sie waren es, die letztlich über den Ausgang des Prozesses entschieden – wie über Alexandras Leben.
Hargrave dachte einen Moment nach.
»Sie konnte nicht stillhalten«, meinte er schließlich. »Sie war ständig in Bewegung, hatte manchmal sogar Schwierigkeiten, längere Zeit am selben Fleck zu sitzen. Sie zitterte am ganzen Körper, und wenn sie etwas in die Hand nehmen wollte, rutschte es ihr zwischen den Fingern hindurch. Ihre Stimme bebte, und sie begann zu stottern. Sie bekam immer wieder Weinkrämpfe, die sie nicht steuern konnte.«
»Aber es gab keine Delirien, keine Halluzinationen, keine Ohnmachtsanfälle, kein Geschrei?« beharrte Rathbone.
»Nein. Wie ich Ihnen vorhin schon gesagt habe.« Hargraves Ungeduld wuchs. Er blickte zu den Geschworenen hinüber, sich ihres Mitgefühls bewußt.
»Würden Sie uns bitte mitteilen, Dr. Hargrave, inwiefern sich ein solches Verhalten von dem eines Menschen unterscheidet, der soeben einen schweren Schock erlitten hat und durch diese Erfahrung extrem unter Druck steht, sogar regelrechte Höllenqualen durchmacht?«
Hargrave mußte erneut überlegen.
»Vermutlich gar nicht«, sagte er nach einer Weile. »Nur daß sie nie einen Schock oder eine furchtbare Entdeckung erwähnt hat.«
Rathbone wölbte die Brauen, als wäre er leicht überrascht.
»Sie hat nicht einmal angedeutet, erfahren zu haben, daß ihr Ehemann ein Verhältnis mit einer anderen Frau hatte?«
Hargrave beugte sich über die Brüstung. »Nein. Nein, das hat sie nicht. Ich denke, ich habe bereits zum Ausdruck gebracht, Mr. Rathbone, daß sie keine derartige Entdeckung gemacht haben kann, weil es nicht so war. Dieses Verhältnis, wenn Sie es unbedingt so nennen wollen, existierte nur in ihrer Einbildung.«
»Oder in der Ihren, Doktor«, stieß Rathbone gepreßt zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Hargrave wurde rot, allerdings eher aus Verlegenheit und Wut, denn aus Schuldbewußtsein. Sein Blick ruhte unverwandt auf Rathbone.
»Ich habe nur Ihre Frage beantwortet, Mr. Rathbone«, entgegnete er erbittert. »Sie legen mir da etwas in den Mund. Ich habe mit keinem Wort gesagt, daß es ein Verhältnis gab, ich habe es sogar ausdrücklich verneint!«
»Richtig«, bestätigte Rathbone und wandte sich wieder zur Menge um. »Es gab kein Verhältnis, und Mrs. Carlyon hat Ihnen gegenüber zu keiner Zeit etwas Derartiges erwähnt oder zum Grund für ihre schwere Verstimmung erklärt.«
»Das heißt…« Der Arzt zögerte, als ob er etwas hinzufügen wollte, fand jedoch die rechten Worte nicht und blieb stumm.
»Aber sie stimmen mir dahingehend zu, daß ihr irgend etwas schwer zu schaffen gemacht hat?«
»Zweifellos.«
»Vielen Dank. Wann genau ist Ihnen ihre schlechte Gemütsverfassung zum erstenmal aufgefallen?«
»Ich kann Ihnen kein exaktes Datum nennen, aber es muß ungefähr im Juli vergangenen Jahres gewesen sein.«
»In etwa neun Monate vor dem Tod des Generals?«
»So könnte man sagen.« Hargrave schmunzelte. Die Berechnung fiel nicht sonderlich schwer.
»Und Ihnen fällt absolut nichts ein, was ihrem Zustand Vorschub geleistet haben könnte?«
»Absolut gar nichts.«
»Sie waren
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