Eine tödliche Erinnerung (German Edition)
lebte. Die hatten es nicht leicht mit ihm, seine Frau und seine beiden Töchter. Die Edeltraut, als die Kleinste, hat wohl am meisten gelitten. Hatte immer nur alte, abgetragenen Klamotten an, musste auftragen, was die Große, die Gerda ablegte. Ganz sauber waren die Sachen oft auch nicht, die hatten auf ihrem Hof ja nicht mal fließendes warmes Wasser. In der Schule haben die Kinder die Edeltraut deshalb gehänselt, Trautchen Niemand haben sie sie gerufen. Kinder können ja so gemein sein. Manchmal haben sie die Edeltraut sogar geschubst und geschlagen, aber da bin ich dann dazwischen gegangen, vor mir hatten sie Respekt. Ich habe sogar oft meine Tour geändert, um die Kleine sicher nach Hause zu bringen. Bis sie dann einen anderen Beschützer gefunden hat. Der Dieter Brückner war schon immer ein feiner Junge, nur so furchtbar schüchtern. Damals gehörten der Brennstoffhandel und die Spedition noch seinen Eltern. Zu der Zeit haben sie auch noch Kohlen verkauft, damit heizten ja hier einige Leute noch, die Niemanns auf ihrem Bauernhof sowieso. Aber die hatten nie genug Geld, um richtig Kohlen für den Winter zu bunkern, darum musste die Kleine sie immer wieder mit dem Handwagen ranholen. Als der Dieter mitkriegte, wie die anderen Kinder sie unterwegs ärgerten, da hat er ihr den Handwagen nach Hause gezogen, dafür war er sich nicht zu schade. Dabei hatten seine Eltern richtig viel Geld. Dass dann aus ihm und der Edeltraut tatsächlich ein Paar wurde, darüber haben die Leute schon geredet, das passte irgendwie nicht zusammen. Und die Frau Brückner, also die Mutter von dem Dieter, die wollte das mit der Edeltraut auf gar keinen Fall. Als die Kleine mit gerade mal 16 schwanger wurde, da hat ihre Familie sie auf dem Hof versteckt und später allen erzählt, die Anne wäre das Kind von Gerda. Aber mir konnten sie nichts vormachen, ich habe schließlich immer die Post zu ihnen raus gebracht und genau gesehen, dass die Edeltraut mit dem dicken Bauch rumgelaufen ist und nicht die Gerda. Als dann Edeltraut zwei Jahre später doch den Dieter geheiratet und die Zwillinge bekommen hat, da blieb die Anne trotzdem bei der Gerda auf dem Hof. Sie hatte es dort genauso schlecht wie früher die Edeltraut. Der Alte wurde immer schlimmer, seine Frau war inzwischen gestorben und die Gerda musste kuschen. Um das Kind hat sich keiner richtig gekümmert. Als dann der Alte endlich starb, kam das für die Gerda zu spät, sie hat ihn nur um ein halbes Jahr überlebt. Und da musste die Edeltraut die Anne, die inzwischen schon 10 war, bei sich aufnehmen. Aber denken Sie, sie hat sie als Tochter anerkannt? Sie hat sie weiter als ihre Nichte ausgegeben, obwohl die Spatzen die Wahrheit inzwischen von allen Dächern gepfiffen haben. So etwas bleibt doch nicht geheim! Die Anne ist nie richtig in die Familie aufgenommen worden, hat immer außerhalb gestanden. Ihre beiden Schwestern, die Zwillinge, haben das ausgenutzt und sie nur schikaniert. Wie kann eine Mutter nur so etwas zulassen? Schließlich hatte doch die Edeltraut als Kind selbst erfahren, wie weh es tut, so abgelehnt zu werden und dann tut sie es der eigenen Tochter an. Es hat dann auch ein schlimmes Ende genommen mit der Anne."
Die Postelse beugte sich zu mir herüber und senkte ihre Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern: "Verrückt geworden ist sie, völlig durchgedreht. Sie ist durch den Ort gelaufen und wollte, dass man sie versteckt, weil jemand sie sonst umbringen würde. Dann ist sie in die Klappsmühle gekommen und keiner weiß, was aus ihr geworden ist. Man hat sie jedenfalls nie wieder gesehen. Nach ihr zu fragen traut sich keiner, die Brückners sind doch wer hier im Ort, die haben das Geld und das Sagen."
"Aber", fuhr sie im normalen Tonfall fort, "Geld ist auch nicht immer alles, es hat der Brückner kein Glück gebracht. Mit ihren anderen beiden Töchtern wollte sie groß rauskommen und aus denen ist überhaupt nichts Gescheites geworden. Die eine ist geschieden und hat drei Kinder von drei unterschiedlichen Männern. Mit der anderen ist es nicht besser, die hat einen von den Kraftfahrern aus dem Betrieb geheiratet, einen ziemlich üblen Kerl. Früher war der mal kriminell, aber ich glaube ehrlich gesagt, dass er es heute immer noch ist."
Plötzlich stand wie aus dem Boden gestampft die Bäckerin neben uns am Tisch. "Es geht nicht, dass du mit deinem Gewäsch die Kunden belästigst", sagte sie in zornigem Ton zu der alten Dame. Die wirkte erschrocken wie ein
Weitere Kostenlose Bücher