Eine tödliche Erinnerung (German Edition)
sagte er.
Tief in Gedanken versunken, trat ich den Rückweg an. Nun kannte ich also das dunkle Geheimnis des Turmes und begriff, weshalb Melissa den kleinen Bruder vollständig aus ihrem Gedächtnis verbannt hatte. Aber was war eigentlich mit der Mutter geschehen? Und weshalb war Melissa im Krankenhaus gewesen?
Die Antwort drauf erhielt ich ein paar Tage später. Vier Krankenhäuser hatte ich angeschrieben und nach Unterlagen zu Melissa gefragt. Drei hatten umgehend in einem kurzen, vorgedruckten Schreiben erklärt, keinerlei Unterlagen über die Patientin zu besitzen. Aus der vierten Klinik erreichte mich nun der Brief einer Ärztin. Zwar seien auch hier keine Akten mehr vorhanden, doch wegen seiner Dramatik könne sie sich gut an den Fall erinnern. Es hätte sich um einen erweiterten Suizid gehandelt, die Mutter habe sich und die Tochter vergiften wollen, nachdem sie zuvor Mann und Sohn verloren hatte. Die Mutter sei unmittelbar gestorben, das Mädchen dagegen habe fast eine Woche im Koma gelegen, aber sie habe überlebt.
Mich berührten diese nunmehr 14 Jahre zurückliegenden Ereignisse sehr und ich war froh, mit Ruth darüber sprechen zu können. Auch sie zeigte sich betroffen. "Das ist wirklich eine dramatische Geschichte.", sagte sie. "Man mag sich das kaum vorstellen. Da stirbt ein noch junger Mann völlig überraschend und die ganz in ihrer Trauer gefangene Witwe überlässt den kleinen Sohn kurz der Aufsicht der älteren Schwester. Die nutzt die günstige Gelegenheit für einen kleinen Ausflug auf verbotenes Terrain, auf eben jenen Turm. Dort geschieht dann ein schrecklicher Unfall, ob rein zufällig oder ob die Kinder zuvor miteinander gerangelt haben, das sei dahin gestellt. Aber daraus bei einem achtjährigen Kind Schuld oder gar Vorsatz konstruieren zu wollen, ist ein Unding. Diese bigotte Nonne hat mit ihren Reden furchtbaren Schaden angerichtet, indem sie sie bei einer verängstigten Risikoschwangeren auf fruchtbaren Boden fallen ließ. Melissa hatte nie eine wirkliche Chance. Wie muss das auf ein sensibles Kind gewirkt haben? Sie wird mit Sicherheit die verstohlenen Blicke und Bemerkungen mitbekommen haben, die ihr galten. Sie muss gemerkt haben, dass mit ihr etwas nicht stimmte, dass sie Angst und Abwehr auslöste. Wie ist sie die ganze Zeit damit umgegangen?"
"Sie scheint alles verdrängt zu haben, wirkt äußerlich ruhig und extrem angepasst", sagte ich nachdenklich.
"Aber eben nur äußerlich", gab Ruth zu bedenken. "Wäre es nicht möglich, dass in ihrem Inneren durchaus Hass und Rachegefühle brodelten?"
Ich konnte dem nicht widersprechen.
"Jedenfalls wird nun auch klar, weshalb sie vieles aus ihrer Kindheit zunächst so vollständig vergessen hat. Zu einem Schock sind noch eine schwere Intoxikation und ein langes Koma gekommen. Glaubst du, sie wird sich an den Vorfall auf dem Turm jemals wieder erinnern?"
"Ja, das glaube ich schon. Manchmal habe ich das Gefühl, sie ist ganz nah dran. Ich habe Angst vor dem Moment, wenn es wirklich so weit ist."
"Das kann ich gut verstehen", sagte Ruth nachdenklich.
41.
Meine Vermieterin hatte starke Schmerzen in der Hüfte. Seit ein paar Tagen stand ich deshalb jeden Morgen früher auf und unternahm mit Brutus seinen ersten Spaziergang. Frau Lehmann überschüttete mich deshalb mit Dankbarkeitsbekundungen, die jedoch nichts gegen die stürmische Zuneigung waren, die Brutus mir dafür entgegen brachte. Wenn ich früh die Treppe hinunter kam, hörte ich schon sein ungeduldiges Fiepen. Danach konnte er es immer kaum erwarten, dass ich endlich die Gartenpforte aufschloss.
An diesem Morgen war das jedoch anders. Brutus stürmte sofort auf den Briefkasten zu, bellte ihn wütend an und war nicht von der Stelle zu bewegen. Ich öffnete die Klappe des Kastens und mein Blick fiel auf ein schlampig verpacktes, blutverschmiertes Päckchen, auf dem mein Name stand. Mit Mühe gelang es mir, Brutus wegzuziehen und ihn zu überzeugen, sich erst einmal auf seine Runde zu begeben. Nachdem ich ihn wieder bei Frau Lehmann abgeliefert hatte, zog ich mir Gummihandschuhe an und holte das Päckchen aus dem Briefkasten. Ich musste es nicht öffnen, sein Inhalt fiel mir förmlich entgegen. Eine tote Ratte war in einen Zettel gewickelt, der mit den gleichen ungelenken Druckbuchstaben bekritzelt war wie die erste anonyme Botschaft:
HÖR AUF RUMZU SCHNÜFELN DU BIST SONST TOD
stand da in wiederum mangelhafter Rechtschreibung.
Ich packte das Ekelpaket in eine Plastiktüte
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