Eine tödliche Erinnerung (German Edition)
Die Vögel, die vor den dunklen Wolken her flogen, bildeten eine Formation. Wenn man die einzelnen Tiere mit Linien verband, entstand ein Kreuz, das direkt über mir schwebte. Mir wurde auf einmal kalt. "Was soll das sein, etwa eine Todesdrohung?", fragte ich mich. Ich straffte die Schultern und atmete tief durch. "Werde bloß nicht hysterisch!", sagte ich laut und verbannte das Bild ganz nach hinten in meinen Schrank.
42.
Es war Hochsommer und alle Welt fuhr in den Urlaub. Ruth und ihr Mann waren zu einer Reise durch Schottland aufgebrochen. Ich hatte es übernommen, inzwischen das Haus zu hüten und in ihrer Wohnung die Blumen zu gießen. Meine Vermieterin Frau Lehmann wurde von ihrer Tochter für eine Woche nach Hamburg geholt. Brutus sollte in seiner gewohnten Umgebung bleiben und ich hatte versprochen, mich um ihn zu kümmern. Unsere täglichen Spaziergänge waren für mich inzwischen zu einer lieben Gewohnheit geworden. Eher lustig fand ich allerdings Frau Lehmanns Bemerkung, es sei sicherer für mich, wenn der Hund im Haus sei. Vermutlich würde sich Brutus unter meinem Bett verstecken, falls wirklich Einbrecher auftauchen sollten.
"Man kann nicht vorsichtig genug sein", sagte Frau Lehmann. "In den vergangenen Tagen habe ich ein Auto mit zwei Männern drin beobachtet, das immer wieder ganz langsam durch unsere Straße gefahren ist. Die wollten vielleicht auskundschaften, wo es sich gut einbrechen lässt."
Ich vermutete eher, es könnte sich um Kripobeamte gehandelt haben. Von den anonymen Drohungen hatte ich Frau Lehmann nichts erzählt. Zum Glück war ich morgens immer als Erste am Briefkasten gewesen.
An jedem zweiten Abend traf ich mich mit Tobias und Johannes bei Melissa. Die Aktion von Tobias hatte Erfolg gehabt, ihm waren Unmengen von Fotos zugegangen, die am Tag der offenen Tür in Dahrenried aufgenommen worden waren. Wir hockten zu viert in Melissas Wohnzimmer vor dem Bildschirm und gingen Foto für Foto aufmerksam durch. Melissas Aufgabe war es, zu jedem Bild Auskunft darüber zu geben, welche Personen darauf ihr bekannt waren und um wen es sich handelte. So unterschieden wir nach und nach, wer zum Internat gehörte und wer als Gast dort gewesen war. Alle sollten wir darauf achten, ob uns irgendeine der anwesenden Personen noch in einem anderen Zusammenhang begegnet war, vor allem in letzter Zeit. Es war eine mühselige und langwierige Prozedur, nach zwei Stunden brannten meine Augen und ich konnte mich kaum noch konzentrieren. Den anderen erging es nicht besser, außerdem war die Stimmung zwischen uns leicht angespannt.
Mit Melissa hatte ich vereinbart, die Therapiestunden für eine Weile auszusetzen. Das Nebeneinander von privaten Treffen und therapeutischen Gesprächen bekam uns nicht gut, wenn es auch in diesem besonderen Falle nicht zu vermeiden war. Außerdem schien Melissa etwas zu ahnen, wenn sie sich unbeobachtet glaubte, musterte sie mich immer wieder mit Blicken, die mir durch und durch gingen.
Zwischen Johannes und Tobias hatte sich eine unterschwellige Gereiztheit breit gemacht, an der Johannes schuld war. Seine Eifersucht war nur zu deutlich spürbar, er beargwöhnte jedes Wort und jeden Blick, der zwischen Melissa und Tobias gewechselt wurde. Johannes mochte ein ausgezeichneter Anwalt sein, psychologisches Gespür besaß er jedoch nicht. Sonst wären ihm vielleicht die leisen Schwingungen zwischen Tobias und mir aufgefallen, die diese eintönigen Abende für mich zu einem prickelnden Erlebnis werden ließen. Weder Melissa noch Johannes wussten etwas davon, dass wir inzwischen zweimal gemeinsam Essen und im Kino gewesen waren und dass ich inzwischen die Erfahrung gemacht hatte wie phantastisch Tobias küssen konnte. Die Langsamkeit und Heimlichkeit, mit der sich die Dinge zwischen uns entwickelten, machten diese Beziehung, die ja noch gar keine war, zu etwas ganz Besonderem. Tobias hatte einen Nerv bei mir getroffen, er gab mir das Gefühl, eine Frau zu sein, um die es sich ausgiebig zu werben lohnte.
Einige meiner Freundinnen hatten meine altmodischen Ansichten bespöttelt, die dafür verantwortlich waren, dass ich keinen einzigen One Night Stand aufzuweisen hatte. Aber ich stand nun mal nicht auf love to go, wenn die Zeit zum Genießen fehlt, verkommt der Sex schnell zu einer schalen Angelegenheit. Mit Tobias genoss ich inzwischen jeden gemeinsamen Moment, sogar die nervtötenden Fotobetrachtungen vor dem Bildschirm, die bisher zu keinen brauchbaren Ergebnissen geführt
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