Eine tödliche Erinnerung (German Edition)
meiner Frau. Die konnte das überhaupt nicht verstehen und fragte natürlich nach dem Grund. Erst wollte die Nonne nicht so recht mit der Sprache heraus, aber dann sagte sie, ihr christliches Gewissen würde ihr gebieten, meiner Frau in dieser Situation die Wahrheit zu sagen. Melissa habe bereits schwere Schuld auf ihre junge Seele geladen und einen Menschen heimtückisch ums Leben gebracht. Genauso hat sie sich ausgedrückt. Das müssen Sie sich einmal vorstellen, so hat die Frau über ein achtjähriges Kind gesprochen! Dann hat sie auch noch ein paar schaurige Einzelheiten zum Besten gegeben. Demnach soll Melissa ihren vierjährigen Bruder auf einen verbotenen Turm gelockt haben, um ihn von dort in die Tiefe zu stoßen. Als zusätzlichen Beweis für Melissas Gefährlichkeit führte sie an, dass sie im Waisenhaus ein Mädchen grundlos geschlagen und dabei ernsthaft verletzt habe. Man habe Melissa deshalb ausdrücklich nur in eine kinderlose Familie vermitteln wollen."
Hans-Friedrich von Werlitz schüttelte resigniert den Kopf. "Sie können sich gar nicht vorstellen, welche verheerenden Auswirkungen dies auf meine Frau hatte. Man muss das verstehen, sie war durch die Schwangerschaft sehr labil, machte sich die größten Sorgen um das ungeborene Kind. Sie wollte Melissa sofort aus dem Haus haben und die Adoption rückgängig machen. Ich kam einfach nicht dagegen an. All meine Argumente, dass ein achtjähriges Mädchen die Folgen seines Handelns noch nicht voll abschätzen kann, prallten an ihr ab. Also habe ich Melissa zusammen mit ihrem Kindermädchen vorübergehend bei meinen Eltern untergebracht. Ich dachte, wenn unser Kind erst einmal geboren und alles gut verlaufen war, würde meine Frau die Dinge wieder nüchterner betrachten. Aber das Gegenteil war der Fall. In ihrer Besorgnis um Amanda steigerte sie sich in eine richtige Aversion gegen Melissa hinein.
Mir blieb nichts anderes übrig, als Melissa in einem Internat unterzubringen. All meine Versuche, sie doch noch in die Familie zu integrieren, scheiterten. Meine Frau hielt sie strikt von Amanda fern und machte der Kleinen schließlich regelrecht Angst vor Melissa. Ich fand das Verhalten meiner Frau nicht in Ordnung, hatte in dieser Beziehung aber keinen Einfluss auf sie. In unserer Ehe kam es deshalb sogar zu ernsthaften Spannungen.“ Während er das sagte wirkte er sehr angegriffen.
„Ich habe versucht, wenigstens einen gewissen Ausgleich zu schaffen, indem ich mit Melissa allein ab und zu für ein paar Tage verreist bin. Sie hatte ja schon dieses ausgeprägte Interesse für Kunst und ich habe mit ihr nach und nach alle bedeutenden Museen abgeklappert. Meine Frau ist in der Zeit mit Amanda verreist. Nach außen hin haben wir das mit dem unterschiedlichen Alter der Kinder begründet. Als sich Melissa schließlich mit Julia Wenger anfreundete und Anschluss an die Familie fand, war ich sehr froh darüber. Ich hatte ihr gegenüber ständig ein schlechtes Gewissen. Materiell fehlte es ihr an nichts, doch die Geborgenheit in der Familie haben wir ihr versagt. Als dann dieser entsetzliche Mord geschah ... "
Er fuhr sich mit der Hand über die Augen und starrte einen Moment resigniert vor sich hin.
"Wie haben Sie das damals erlebt?", fragte ich. "Und was haben Sie geglaubt, wer das getan haben könnte?"
"Es war furchtbar und hat für unsere Familie alles noch schlimmer gemacht. Meine Frau war sofort von Melissas Schuld überzeugt und sah darin die Bestätigung ihrer Bedenken und ihres Verhaltens in all den Jahren zuvor. Wenn ich damals den Kontakt zu Melissa weiter aufrecht erhalten hätte, wäre dadurch unsere Ehe gefährdet gewesen.
Ich weiß nicht, ob ich Melissa auch verdächtigt habe, ich kenne sie einfach zu wenig, das ist sehr traurig. Aber wenn sie es war, dann gebe ich mir definitiv eine Mitschuld. Kurz zuvor hatten wir die Adoption aufgelöst und dann wollte die Freundin sie plötzlich auch nicht mehr in der Familie haben. Wie viel Zurückweisung erträgt so ein junger Mensch? Und wie reagiert er darauf? Wissen Sie es?"
"Nein", sagte ich, "ich weiß es auch nicht. Denn Menschen reagieren nun einmal sehr unterschiedlich, das macht Vorhersagen und nachträgliche Deutungen schwierig."
"Werden Sie Melissa sagen, was ich Ihnen erzählt habe?"
"Nicht alles, das würde sie in ihrer gegenwärtigen Situation nicht verkraften. Aber ich werde sie auf jeden Fall von Ihnen grüßen und ausrichten, dass Sie ihr alles Gute wünschen."
"Ja, tun Sie das bitte",
Weitere Kostenlose Bücher