Eine unbegabte Frau
Jahre gefangen. In seinem Buch »Gedanken aus einer Gefängniszelle« schreibt er: »Oft denke ich an die winzig kleine Missionarin aus England, die ein Jahr draußen in Westchina mit uns lebte. Sie verließ uns, um in eine Aussätzigenkolonie zu gehen, da sie fand, daß die Kranken dort ihre Hilfe und das Evangelium nötiger brauchten. Ein Christ, den sie auf dieser Station antraf, arbeitete mit ihr zusammen. Sie predigte und diente mit solcher Begeisterung, daß sie der ganzen großen Gruppe Aussätziger neue Hoffnung zu geben vermochte. Ehe sie kam, waren sie streitsüchtig und mißgünstig, und es gab oft Schlägereien; viele von ihnen hatten allen Lebensmut verloren. Aber Gladys Aylward erzählte ihnen von einem Gott, der sie liebt. Der Ton in dieser Kolonie wandelte sich — Weihnachten zum Beispiel wurde ihnen zu einem sinnvollen, glücklichen Erlebnis. Am Karfreitag schloß ich mich dem dort ansässigen chinesischen Pfarrer an, um im Lager den Passionsgottesdienst zu halten; zum Schluß teilten wir das heilige Abendmahl aus. Wir reichten Brot und Wein diesen Ärmsten, von denen einige durch die entsetzliche Krankheit so verstümmelt waren, daß sie am Altar nicht niederknien konnten, und deren zerstörte Hände oft kaum imstande waren, die Gabe in Empfang zu nehmen. Doch ihre Augen glänzten in neuer Freude und Hoffnung. Gott hatte diese kleine Missionarin zu ihrem Barnabas erwählt.«
Auch in das Land hinaus unternahm sie einsame Reisen. Hier hatten vor ihr schon Missionare gearbeitet, sie führte nur ein Werk fort, das andere begonnen hatten. Wichtig war diese Aufgabe trotzdem; denn sie und die anderen Christen, wie die Stockwells, wußten, daß in kurzer Zeit die Kommunisten dieses Gebiet überfluten würden. Sie wollten daraufhin arbeiten, daß das Christentum hier starke Wurzeln faßte, ehe sie gezwungen wurden, ihren Posten zu verlassen.
Gladys war noch immer leidend. Bei den Schlägen der Japaner damals im Frauenhof von Tsechow hatte sie innere Verletzungen erlitten, deren Folgen sich im Laufe der Jahre immer bedenklicher auswirkten. Die europäischen Ärzte, die sie konsultierte, rieten ihr dringend, nach England zurückzukehren, denn die einzige Möglichkeit einer Besserung liege in den Händen eines guten Chirurgen. Aber das war ganz unmöglich. Woher sollte sie das Geld nehmen? Ihre größte Hoffnung war vielmehr, eines Tages wieder in Yang Cheng leben zu können.
In dieser Zeit wurde sie mit einer Dienstreise in die Provinz Schensi betraut, durch die sie schon einmal auf der Flucht mit ihren Kindern gekommen war; eine methodistische Missionsstation sollte dort einer Gruppe von Amerikanern übergeben werden, die aus Nordsdiansi vertrieben worden waren und hier im Westen ihre Arbeit fortsetzen wollten. Als sie mit einem dieser Herren plaudernd die Straße zur Mission hinaufging, begegnete ihnen eine Flüchtlingsfrau aus Schansi, die Gladys kannte. Die Frau rief ihr im Schansi-Dialekt einen Gruß zu, und Gladys antwortete in der gleichen Mundart. Der Amerikaner sah sie interessiert an.
»Sie sind in diesem Teil von China gewesen?« fragte er.
»Ja«, sagte Gladys, »ich war oben in Schansi tätig.«
»Ach, Sie haben wohl nicht zufällig von der Missionarin gehört, die Ai-weh-deh genannt wurde — die sich vor Jahren hinter den japanischen Linien durchgeschlagen hat? Haben Sie sie wohl dort einmal kennengelernt? Muß ja eine Prachtsfrau gewesen sein. Überall erzählen sich die Leute noch Geschichten von ihr.«
»Doch, ich habe sie gekannt«, sagte Gladys ruhig. »Das war ich.«
Der Amerikaner riß vor Erstaunen die Augen auf. »Ist das möglich!« rief er. »Kein Scherz? Ai-weh-deh — es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen.«
Sie unterhielten sich noch lange, und er fragte, wann sie das letztemal zu Hause gewesen sei. Sie verstand nicht ganz, was er meinte.
»In England«, setzte er erklärend hinzu.
Sie lächelte. »Wie kann jemand, der nicht weiß, woher das Essen für den nächsten Tag kommen wird, daran denken, eine Reise nach England zu machen?«
Er zog die Augenbrauen hoch. »Wie lange sind Sie denn schon in China?«
»Siebzehn Jahre!«
»Donnerwetter!« rief er aus. »Da möchten Sie aber sicher endlich nach Hause, nicht wahr?«
»Ach ja, es wäre wohl schön, sie alle einmal wiederzusehen«, erwiderte sie nachdenklich. »Aber es ist wirklich nicht möglich.« Die Unterhaltung wandte sich anderen Dingen zu, und sie hatte das kleine Intermezzo bald vergessen — nicht aber
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