Eine unbegabte Frau
vor dem Tor, der hat nicht einmal >ein kleines Wenig< in der Schüssel.«
Gladys blickte hinab auf das kleine Mädelchen inmitten des großen Hofes, auf diese winzige, blau uniformierte Gestalt mit dem ernsten Gesicht.
»Ninepence«, sagte sie, »wenn du ein bißchen weniger ißt, tue ich es auch. Und dann geben wir es dem kleinen Jungen. Geh nur und hole ihn.«
Ninepence rief etwas, worauf ein kleiner Kerl, etwa acht Jahre alt, durch das Tor hereintrollte. In seinen schmutzstarrenden Lumpen schien er eine männliche Abwandlung der einstigen Ninepence zu sein: genauso hatte sie ausgesehen. Ninepence hatte ihn bettelnd auf der Straße angetrolfen. Er aß seine Mahlzeit mit Vergnügen und blieb die nächsten zehn Jahre bei ihnen. Sein Spitzname aber war »Leß« — »Weniger«.
Er war alt genug, um Gladys erzählen zu können, wo er herkam. Banditen hatten sein Dorf in der Provinz Horbay geplündert. Sie hatten die Männer erschlagen und die Frauen mitgenommen. Die Mutter von Leß war schwanger, ihre Wehen setzten auf dem Gewaltmarsch ein, und die Banditen ließen sie in einem Graben liegen. Ob der Kleine viel von den Qualen seiner Mutter verstanden hatte, konnte Gladys nicht sagen, aber er sah sie sterben, und nachdem er vergeblich versucht hatte, sie an ihren Kleidern mit sich zu zerren, ließ er die Tote allein und ging zu seinem Dorf zurück. Es lag in Asche. In den Ruinen fand er nur Leichen. Er wanderte in die Berge hinaus, bettelte um Brot, schloß sich den Maultiertreibern auf ihren Reisen über die Hochgebirgsstraßen an und landete schließlich in der Eierberge »Zu den Acht Glückseligkeiten«, das zweite Kind, das am Herzen der Ai-weh-deh einen Platz fand.
Das nächste Kind fanden sie im Frühling des darauffolgenden Jahres. Sie hatten die ersten freundlichen Sonnentage zur großen Kleiderwäsche ausgenutzt —: im Frühling wusch die ganze Stadt Kleider auf den Felsbrocken des Flußufers einige hundert Meter vor dem Osttor. Gladys hieb gewaltig mit einem Holzknüppel auf die nassen gesteppten Kleidungsstücke ein in der Hoffnung, daß die Läuse doch nicht alle ihre Schläge gesund überstehen würden — da hörte sie Ninepence und Leß hinter sich am Ufer ihren Namen rufen. Sie drehte sich nach ihnen um und sah sie mit einem etwa dreijährigen Kind auf sich zukommen, dessen Händchen sie beide gefaßt hielten.
»Was wollt ihr mit dem Kleinen?« rief Gladys. »Bringt ihn wieder dorthin zurück, wo er war, aber sofort!«
»Aber er hat doch niemanden«, rief Ninepence zurück. »Wir haben überall gesucht, es ist überhaupt niemand da.«
Sie kamen näher zu ihr ans Wasser heran, damit Gladys den kleinen Kerl genau betrachten konnte. »Schon möglich. Er wird aus der Stadt fortgelaufen sein. Irgend jemand muß er ja gehören.«
Voller Hoffnung fragte Ninepence: »Können wir ihn mit nach Hause nehmen?« Das war also der wahre Grund ihres Eifers.
»Auf keinen Fall«, rief Gladys entrüstet. »Das können wir natürlich nicht! Glaubst du denn, ich will vor den Mandarin befohlen werden — wegen Kindesraubs! Das wäre ja nicht auszudenken.«
»Er hat sich verirrt und ist jetzt ganz allein«, beharrte Leß.
»Wir haben überall gesucht.«
»Warte, bis ich mit der Wäsche fertig bin. Wir werden seine Eltern schon finden.«
Aber das gelang ihnen nicht. Sie durchsuchten die Ufer und den Hügelhang. Häuser waren nicht in der Nähe. Sie riefen so laut sie nur konnten. Niemand ließ sich sehen, dem das Kind gehört hätte. Nachdem sie alles getan hatten, was nur möglich war, mußten sie ihn mit nach Hause nehmen und ihm ein Lager in der Herberge zurechtmachen. Am nächsten Tage wurden Plakate an den Stadttoren angebracht, die die Auffindung eines Kindes bekanntgaben, und der Mandarin ließ den Stadtausrufer die Runde machen; aber es führte zu nichts — niemand meldete sich.
So hatte Gladys nun die Verantwortung für drei Kinder. »Bao-Bao«, Kostbares Bündel, hatte sich zu Gladys gesellt; in den folgenden Jahren sollte sie noch zweimal offiziell Mutter werden. Im Jahre 1936, als der Gelbe Fluß das Land ringsumher überflutet hatte und Tausende von Obdachlosen selbst in den Bergen Unterkunft suchten, blieb ein kleiner Junge, Francis genannt, zurück, der seine Angehörigen verloren hatte und den niemand aufnehmen wollte. Und schließlich kam noch das Mädchen Lan-Hsiang, die sozusagen ein »Überbleibsel« aus einem Prozeß war, den der Mandarin geleitet hatte. Das achtjährige Kind hatte keine
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