Eine unbegabte Frau
Eltern mehr, und dem Mandarin schien es eine glänzende Lösung, wenn Gladys das Kind übernähme.
Gladys, die Europäerin, konnte sich an den Gedanken nicht gewöhnen, daß ihre jungen Schützlinge ohne jeden Unterricht aufwachsen sollten. In Yang Cheng gab es keine öffentlichen Schulen; die Kinder wurden, wenn überhaupt, zu Hause unterrichtet. Hilfe kam diesmal von dem Gefängnisdirektor, der selbst drei Kinder hatte. »Wir müssen in Yang Cheng eine Schule eröffnen«, sagte er. »Einen Lehrer können wir aus Luan bekommen, wenn alle Eltern sich verpflichten, einen kleinen Beitrag für sein Gehalt beizusteuern.« Es dauerte nicht lange, und der Unterricht konnte beginnen.
Fünf Jahre später. Den aufgeweckten kleinen Gesichtern von Leß und Ninepence war anzusehen, wie gut ihnen die Schule bekam. Ninepence hatte sich zu einem hübschen Mädchen entwickelt, und ihr Bruder bewachte sie wie eine Bärenmutter ihr Junges. Eines Tages berichtete er Gladys, daß zwei oder drei Tage hintereinander ein Mann außerhalb der Schule auf Ninepence gewartet und versucht hatte, mit ihr zu sprechen. Einmal hatte er sogar ihren Arm ergriffen. Leß war sehr aufgeregt.
Auch Gladys war beunruhigt. Sie verabredeten, sich am nächsten Tage vor der Schule zu treffen. Sollte der Mann sich wieder sehen lassen, würde Leß ihr ein Zeichen geben. Und wirklich, er war wieder da; und obgleich er es in Gladys’ Gegenwart nicht wagte, das Kind zu belästigen, blickte er drohend zu ihnen hinüber. Gladys wußte nicht, was sie tun sollte, und — wie immer in solchem Fall — ging sie zu ihrem alten Freund, dem Mandarin.
»Es hat keinen Zweck, ihn zu verhaften, wenn wir ihn nicht auf frischer Tat ertappen«, sagte der Mandarin nachdenklich. »Aber von morgen ab soll ein Soldat jeden Tag in der Nähe der Schule Wache halten, und wenn dieser Mann sich nochmals an das Kind heranmacht, dann soll sie schreien, und wir werden ihn festnehmen.«
Gleich am nächsten Tage ging der Bursche ganz unbekümmert in die Falle. Als Ninepence durch das Schultor hinaus auf die Straße trat, ergriff er sie beim Arm und versuchte, sie mit sich zu ziehen. Leß, der sich im Hintergrund gehalten hatte, stürzte sich plötzlich auf ihn wie ein wütender Hund und grub seine Zähne in den Arm des Mannes. Lärm und Geschrei brach los; und der Soldat rannte herbei. Nur unter erheblichen Schwierigkeiten konnte er Leß bewegen, den Burschen loszulassen. Der Unbekannte wurde verhaftet, und am nächsten Tage eröffnete der Mandarin die Untersuchung. Es kam allerlei recht Interessantes zutage. Dieser Mann, der Ninepence zu entführen versucht hatte, handelte im Auftrag eines heimtückischen Onkels. Sein Plan war aber doch etwas zu einfach angelegt: es fiel ihm nichts anderes ein, als das Kind beim Verlassen der Schule abzufangen. Offenbar war Ninepences Mutter mit ihrem Mann und dem kleinen Töchterchen einmal sehr glücklich gewesen. Bald aber war ihr Mann gestorben, und ihre Schwiegermutter, die keine weibliche Nachkommenschaft wünschte, hatte die junge Frau wieder verheiratet, um Mutter und Tochter aus ihrer Familie zu entfernen. Nun starb jedoch auch Ninepences Mutter und mußte ihr Kind zurücklassen als lästiges weibliches Glied einer Familie, mit der es keinerlei Blutsverwandtschaft verband. Man gab Ninepence aus dem Hause, und sie ging durch viele Hände, ehe Gladys der Kinderhändlerin in der Hauptstraße von Yang Cheng begegnete.
Die Nachricht, daß Ninepence in der Hut des »fremden Teufels« war, gelangte zwar bald bis zu der Großmutter, der eine Bergfarm viele Meilen entfernt von Yang Cheng gehörte. Sie unternahm aber nichts, um das Kind zurückzuholen. Ein Mädchen! Unnützer und lästiger Anhang! Die Mißachtung eines Mädchens war in der chinesischen Lebensauffassung tief verankert. Die Geburt eines weiblichen Kindes sah man als ein Unglück an, und Nachbarn und Verwandte äußerten sich in beißenden Worten über das Mißgeschick. Von niemandem wurde solch ein Kind geliebt, die unselige Mutter ausgenommen. Aber sie hatte bei dieser Angelegenheit nicht mitzureden; die Folge war, daß ein neugeborenes Mädchen oft gleich nach der Geburt getötet wurde. Blieb es am Leben, so hatte es für die Zukunft nur Plackerei und schwere Arbeit zu erwarten. Sobald ein Mädchen aber verlobt war, betrachtete man es als zur Familie des
Verlobten gehörig. Zeit und Geld für eine Tochter zu opfern, war überflüssig. Wer wollte Verständnis und Liebe an ein Geschöpf
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