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Eine unbegabte Frau

Eine unbegabte Frau

Titel: Eine unbegabte Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Burgess
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haben«, orakelte Chang. Gladys stellte mit Befriedigung fest, daß er wenigstens »wir« gesagt hatte. Gleich wurde es ihr etwas leichter ums Herz.
    Drei Wochen lang verhielt sich das Kind genau wie ein wildes Tier; niemand durfte es anfassen, es biß und kratzte und schrie gellend, wenn Gladys versuchte, das kleine Wesen zu waschen, anzuziehen oder auch nur zu streicheln. Bei der ersten Gelegenheit lief es aus dem Hause und war nicht wieder hineinzubekommen. Es schien lieber auf dem Hof in einer Ecke zu essen und zu schlafen. Gladys gab langsam die Hoffnung auf, daß jemals etwas Menschenähnliches aus diesem armseligen Bündel werden könnte. Es war ein Mädchen, ein dunkeläugiges, von der Menschheit ausgestoßenes Geschöpf, das nur von zwei Gefühlen beherrscht wurde; Hunger und Angst.
    Nach drei Wochen vergeblicher Mühe sah Gladys ein, daß sie kaum etwas erreichen würde. Für das Kind mußte ein Mensch gefunden werden, der besser als sie verstand, es aufzuziehen. In solchen Gedanken kehrte sie eines Spätnachmittags zu ihrer Herberge zurück. Unterwegs kam sie an einer jungen Frau vorbei, die weinend auf der Schwelle ihres Hauses saß und ihr totes kleines Kind auf dem Schoß hielt.
    Gladys blieb plötzlich vor ihr stehen und sah sie an. Impulsiv sagte sie zu der Weinenden: »Ich habe ein Kind, dem du helfen kannst. Es nützt nichts, nur das tote Kleine zu beweinen.«
    Die Frau blickte sie mit geröteten Augen an. »Ich verstehe nicht«, flüsterte sie.
    »Gib mir dein totes Kindchen, ich will es für dich begraben«, sagte Gladys. »Das andere Kind ist in der Herberge >Zu den Acht Glückseligkeiten^ sieh einmal danach!«
    Die Frau wehrte sich nicht, als sie ihr das tote Kleine aus dem Schoß nahm. Gladys trug es behutsam auf dem Arm wie ein lebendes und ging den Weg zurück, den sie gekommen war. In Yang Cheng machte man wenig Umstände mit dem Begraben neugeborener Kinder. Man suchte sich ein Loch im Bergabhang, schob den Leichnam hinein, verstopfte den Eingang mit Steinen und Erde, das genügte. Manchmal konnte man in dem tiefen trockenen Festungsgraben, der die Stadt umgab, die Hunde an einem Bündel zerren sehen und wußte dann, daß wieder ein neugeborenes Mädchen ohne viel Federlesens dort hinübergeworfen worden war. Knaben wurden wie kleine Götter behandelt; Mädchen waren unerwünscht.
    Als Gladys in die Herberge zurückkehrte, wartete dort bereits die Frau auf sie. Chang stand, über das ganze Gesicht strahlend, hinter ihr. Die Frau hielt Ninepence — so hatte Gladys das Kind im Scherz nach seinem Kaufpreis genannt — an der Hand. Es war kaum wiederzuerkennen, war sauber gewaschen und trug frische Kleider. Gladys machte ein erstauntes Gesicht. Die Frau lächelte sie an, führte das kleine Mädchen ein paar Schritte vorwärts und legte das Kinderhändchen in Gladys’ Hand.
    »Sehen Sie nur Ihr Kind«, sagte sie. »Die Kleine wird Ihnen Ihre Liebe vergelten, wenn sie erst einmal versteht, was Sie an ihr getan haben.«

    Obgleich sie auf den chinesischen Namen Mei-en (»Liebliche Schönheit«) getauft war, blieb ihr Kosename immer »Ninepence«. Auf ihre Vergangenheit sollte erst viele Jahre später Licht fallen, immerhin entpuppte sie sich schon nach kurzer Zeit vernünftiger Pflege als ein niedliches kleines Mädchen, das all den Liebreiz und all die Frechheit entwickelte, die zu diesem Alter gehören.
    Eines Nachmittags kam sie in den Hof gerannt, ihre schwarzen Augen blitzten vor Aufregung.
    »Ist das Essen fertig?« rief sie zu Gladys hinauf, die auf dem Balkon stand.
    »Beinah fertig!«
    Sie pflegten ihre Abendmahlzeit am späten Nachmittag einzunehmen, um fertig zu sein, wenn die Maultiertreiber kamen.
    »Gibt es was Gutes?« fragte Ninepence eifrig.
    »Natürlich! Gibt es nicht immer etwas Gutes?« Ninepence nahm sonst das Essen gar nicht so wichtig. »Lauf nur und spiele noch ein Weilchen, ich rufe dich dann, wenn es fertig ist.«
    Ninepence sah verschmitzt zu ihr auf. »Wenn ich heute ein bißchen weniger essen würde, würdest du dann auch ein bißchen weniger essen?«
    Gladys hatte keine Ahnung, auf was das hinausgehen sollte. »Ja, natürlich.«
    »Und wenn wir dann die beiden >Weniger< in eine Schüssel täten, nicht wahr, dann hätten wir doch genug für noch eine Person mehr?«
    »Ninepence«, sagte Gladys streng, »was hast du denn nun schon wieder vor?«
    »Weißt du«, sagte Ninepence und zog die Stirn in Falten vor eifrigem Nachdenken, »da draußen steht ein kleiner Junge

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