Eine unbeliebte Frau
Hause, aber da war er nicht. Dann haben wir auf den Anrufbeantworter gesprochen. Bisher gab es aber keinen Rückruf.«
»Kann es auch nicht geben«, gab Sylvia zurück. »Der Strom ist ausgefallen. Ich wollte die Pferde füttern, denn ich habe heute Abend Dienst, aber als ich hierhergekommen bin, habe ich festgestellt, dass kein Strom da ist. Nichts geht mehr – kein Licht, kein Computer, kein Anrufbeantworter.«
»Um Viertel nach sechs funktionierte der Anrufbeantworter noch«, sagte Pia. »Wissen Sie, wo der Sicherungskasten ist?«
»Ja«, die Tierarzthelferin nickte, »neben dem OP. Weil wir dort Starkstrom brauchten, wurde der neue Kasten damals dort installiert.«
Sie überquerte den Hof, nestelte ihren Schlüsselbund heraus und wollte die Tür aufschließen, als sie bemerkte, dass diese offen war.
»Komisch«, murmelte sie und zog die Taschenlampe aus der Jackentasche.
»Geben Sie her«, Bodenstein nahm ihr die Lampe aus der Hand, »ich gehe vor.«
Das mulmige Gefühl, das ihn gerade verlassen hatte, kehrte zurück. Er leuchtete in den großen Raum, und was er im Schein der Taschenlampe erblickte, ließ ihn zusammenfahren.
»Was ist?«, zischte Frau Wagner.
»Rufen Sie den Notarzt«, befahl Bodenstein, »aber ganz schnell!«
Er durchquerte den Raum und kniete neben der am Boden liegenden Gestalt nieder. Pia ergriff die Taschenlampe und leuchtete ihrem Chef, der versuchte, den Puls an der Halsschlagader des Mannes zu ertasten.
»O mein Gott!«, schrie Sylvia, als sie erkannte, dass es Kerstner war, der in einer unnatürlich verkrümmten Haltung blutüberströmt und bewusstlos an der Wand lag.
»Tun Sie schon, was ich Ihnen gesagt habe!«, herrschte Bodenstein sie unwirsch an, dann begann er die Fessel, mitder dem Tierarzt die Arme auf den Rücken gebunden waren, zu lösen. Da erst fiel ihm auf, womit man den Mann gefesselt hatte. Es war ein Kabel, das direkt in die Starkstromdose führte. Wenn jemand die Sicherungen hineingedrückt hätte, wären ein paar hundert Volt durch Kerstners Körper gejagt und hätten ihn wahrscheinlich getötet. Bodenstein knotete die Kabel auf, und erst nachdem er sich vergewissert hatte, dass nun nichts mehr an den Strom angeschlossen war, drückte er die Hauptsicherung wieder hinein. Sofort flackerte helles Neonlicht auf. Kerstner war übel zugerichtet und ohne Bewusstsein. Gleichzeitig mit dem Rettungswagen tauchten Rittendorf und seine Frau auf. Stumm und erschüttert sahen sie zu, wie die Sanitäter den Bewusstlosen zum Rettungswagen trugen.
»Wo bringen Sie den Mann hin?«, erkundigte sich Bodenstein bei dem Notarzt.
»Nach Bad Soden. Die haben heute Abend Notdienst.«
Erst als der Wagen mit Sirene und zuckendem Blaulicht abgefahren war, fand Rittendorf die Sprache wieder.
»Wo ist eigentlich Anna Lena?«, fragte er.
»Die suchen wir auch«, sagte Bodenstein, dem in der letzten halben Stunde der eigentliche Grund seines Besuches beinahe entfallen war.
»Um kurz vor sechs waren die beiden zusammen bei uns«, Rittendorf setzte seine Brille ab und rieb sich die Augen. »Micha hat heute Nacht Bereitschaft. Er kam vorbei, um sich den Piepser zu holen. Wir haben im Moment nur den einen, der andere ist kaputt. Und da war sie bei ihm.«
Bodenstein erinnerte sich plötzlich an die Worte von Anna Lena Döring, die sie am Freitagabend zu ihm gesagt hatte. Sollte er versuchen, mir etwas anzutun, werde ich das, was ich über ihn weiß, gegen ihn verwenden ... Hatte Friedhelm Döring erfahren, dass seine Frau zu Kerstner geflüchtet war?Hatte er den Mann so zugerichtet? Aber wo war dann Anna Lena Döring?
Dörings Haus lag so verlassen da wie vorher das von Kerstner, und so fuhren Bodenstein und Pia direkt weiter zum Krankenhaus, in der Hoffnung, mit Kerstner sprechen zu können. Auf der Fahrt telefonierte Bodenstein mit Dr. Florian Clasing, der aber auch nicht wusste, wo sich seine Schwester aufhielt. Er hatte das letzte Mal am Samstag mit ihr gesprochen, da war sie bei Kerstner gewesen.
Vor der Tür des Krankenhauses lungerten ein paar alte Männer in Bademänteln herum, die Zigaretten rauchten und neugierig die Besucher beäugten. Die Tür zur Notaufnahme befand sich links hinter den Aufzügen. Das Wartezimmer war leer.
Bodenstein klingelte an der Milchglastür, an der ein Schild darauf hinwies, dass es eine Weile dauern könnte, bis jemand öffnete. So war es auch. Nach beinahe fünf Minuten erschien eine übellaunige Schwester mit einem herrischen
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