Eine unheilvolle Begegnung
geschickt, sie getröstet, auch mal mit ihnen geschimpft und alles für sie getan. Sogar das Geografie-Studium hatte er ihm zum großen Teil finanziert. Durch sein Vorbild hatte Joe sich entschieden, sein Wissen dazu zu verwenden, Gutes zu tun, und war zur National Geospatial-Intelligence Agency gegangen. Verstanden hatten sie sich immer sehr gut, obwohl sie beide im Grunde Einzelgänger waren. Doch seit Maras Tod hatte sich ihr Verhältnis verändert.
Früher telefonierten oder mailten sie in regelmäßigen Abständen und besuchten sich hin und wieder. Seit Monaten sprach er jetzt jedoch nur noch mit Morgans Anrufbeantworter. Wenn sich sein Bruder mal auf seine Nachrichten hin meldete, war er immer kurz angebunden und legte nach spätestens zwei Minuten wieder auf. Früher hatte er wenigstens gewisse Dinge aus seinem Berufs- und Privatleben erzählt, aber während der letzten acht Monaten hatte er geschwiegen, immer nur gesagt, ihm gehe es gut, und das Thema war für ihn erledigt. Damit konnte Joe sich jetzt nicht mehr abfinden. Es schien, als hätte er mit Maras Tod nicht nur seine Schwester verloren, sondern auch noch seinen Bruder. Das tat ihm mehr weh, als er es sich eingestehen mochte.
Entschlossen straffte Joe seine Schultern und rückte den Riemen seines Rucksacks zurecht, bevor er die kleine Treppe zur Haustür hinaufstieg. Er drückte auf den Klingelknopf und wartete, dass Morgan ihm öffnete. Er runzelte die Stirn, als ihn auch nach längerem Warten niemand hereinließ. Joe blickte auf seine Armbanduhr. Er war etwas spät dran, weil sein Flugzeug Verspätung hatte. Vielleicht musste Morgan noch etwas besorgen und war deshalb nicht zu Hause. Zur Sicherheit klingelte er noch einmal. Nichts passierte. Er kannte den Vermieter von früheren Besuchen, deshalb versuchte er es jetzt dort. Glücklicherweise war der Mann zu Hause und ließ ihn herein. Nachdem er erklärt hatte, dass er keinen Schlüssel für die Wohnung seines Bruders hatte und dieser ihn erwartete, war der Vermieter bereit, die Tür für ihn aufzuschließen. Joe folgte dem Mann zur Wohnungstür, wartete, bis er aufgeschlossen hatte, und entließ ihn dann mit einem Dank.
Unbehaglich öffnete er die Tür. Eigentlich mochte er nicht in die Privatsphäre seines Bruders eindringen, aber er war von dem Flug erschöpft und durstig, und er wusste, dass Morgan nichts dagegen haben würde, wenn er es sich schon einmal gemütlich machte, bis er zurückkam. Er trat ein und blieb dann erschrocken stehen. In der Wohnung herrschte völliges Chaos. Kein »Ich-habe-heute-vergessen-aufzuräumen-Chaos«, sondern ein »Ich-schmeiße-Möbel-um-Chaos«. Was war denn hier passiert? Hatte Morgan einen Wutanfall gehabt? Unwahrscheinlich, erstens war sein Bruder der ruhigste, ausgeglichenste Mensch, den er kannte, und zweitens hatte er sich bei ihrem letzten Telefonat anders angehört, fröhlicher als die Monate davor.
Joe konnte sich nicht vorstellen, dass Morgan die Möbel selbst umgeschmissen hatte, jedenfalls nicht ohne guten Grund. Die Haare stellten sich in seinem Nacken auf. Langsam trat er einen weiteren Schritt vor, zog den Fuß aber schnell zurück, als er den dunklen Fleck auf dem hellen Teppich bemerkte. Sofort ging er in die Hocke und betrachtete ihn prüfend. Mit einem Finger berührte er den Fleck. Er war feucht. Er zog ein Taschentuch aus der Tasche und wischte seinen Finger daran ab: rot wie Blut. Ein Schauer kroch über seinen Rücken. Morgan steckte in ernsten Schwierigkeiten, dafür war der Blutfleck ein Indiz.
Vorsichtig blickte er sich nach allen Seiten um und folgte der Spur der Verwüstung, die sich vom Wohnzimmer bis in das Schlafzimmer zog. Sein Magen verkrampfte sich beim Anblick der zerstörten Schüssel, dem halb abgedeckten Bett und den heruntergerissenen Gardinen. Es sah aus, als hätte hier ein Kampf stattgefunden. Dann entdeckte er die offene Terrassentür. Schnell trat er hinaus, sah aber nichts Verdächtiges. In der Hecke entdeckte er ein paar abgebrochene Zweige und folgte dem Weg bis zu einer Lücke im dahinterliegenden Zaun. War hier jemand durch die Terrassentür in die Wohnung gekommen, hatte Morgan im Schlafzimmer überrascht und dann mit ihm gekämpft, bis sie im Wohnzimmer gelandet waren? Wenn das Blut von Morgan war, wie war er verletzt worden? Mit einem Messer oder einer Pistole? Obwohl dafür glücklicherweise nicht genug Blut vorhanden war. Joe kehrte in die Wohnung zurück. Er würde jetzt erst einmal die Polizei rufen
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