Eine unheilvolle Begegnung
T-Shirt von meinem Bruder, das ich nachts …« Sie brach ab und drehte sich hastig um. Nach einigem Wühlen in ihrer Reisetasche förderte sie das T-Shirt zu Tage. Sie roch daran, dann zuckte sie die Schultern. Besser als sein zerschnittenes war es allemal. Ohne hinzusehen reichte sie es ihm. Er nahm es dankend entgegen, dann war nur noch sein schweres Atmen zu hören.
Sam schüttelte den Kopf. »Warten Sie, ich helfe Ihnen.« Sie richtete sich auf und drehte sich um. Ihr stockte der Atem. Der Rücken des Mannes war über und über mit roten Striemen bedeckt, die sich langsam bläulich färbten. Sam trat näher heran. Es sah fast aus, als hätte jemand mit einem Stock auf ihn eingeprügelt. Das musste höllisch wehtun. Es war unvorstellbar, wie jemand einem anderen so etwas antun konnte. Erneut fragte sie sich, was wohl der Grund dafür gewesen sein mochte. An seiner starren Haltung erkannte sie, dass John wusste, dass sie gerade seinen Rücken betrachtete.
Ihre Finger zuckten. Sie bekämpfte den merkwürdigen Wunsch, über seine Wunden zu streichen und seine Schmerzen zu lindern. Das musste an ihrem Helfersyndrom liegen. Ihre Eltern hatten sie früher immer ermahnt, dass sie nicht die ganze Welt retten konnte. Nein, das war natürlich nicht möglich. Aber versuchen konnte sie es zumindest. Und sie würde damit anfangen, diesem verletzten, geheimnisvollen Mann beim Anziehen zu helfen. Auch wenn er sie offensichtlich angelogen hatte und in ein paar Stunden aus ihrem Leben verschwunden sein würde. Doch sie konnte ihn einfach nicht leiden sehen.
Sam nahm das T-Shirt aus seinen steifen Fingern. Ohne ihm in die Augen zu blicken, zog sie die kurzen Ärmel vorsichtig über seine Arme. Danach weitete sie mit ihren Händen den Halsausschnitt und senkte ihn langsam über seinen Kopf. So verhinderte sie, dass der Verband in Mitleidenschaft geriet und die Wunde sich wieder öffnete. Ihre Hände fuhren dabei über seine warme Haut und machten ihr bewusst, dass sie diesem völlig fremden Mann viel zu nahe war. Ruckartig zog sie das weite T-Shirt über seinen muskulösen Brustkorb, dann wandte sie sich ab. Über sich selbst verärgert warf sie wahllos Gegenstände in ihre Tasche. Eine Hand auf ihrer Schulter ließ sie innehalten. Wortlos blickte sie zu John auf.
»Danke für Ihre Hilfe. Ohne Sie hätte ich das T-Shirt nie anbekommen, zumindest nicht, ohne in Ohnmacht zu fallen.«
Ein Mann, der zugab, ohnmächtig zu werden. Erstaunlich. Grinsend blickte Sam zu ihm hoch. »Gern geschehen. Dann setzen Sie sich jetzt lieber wieder aufs Bett, bevor Sie doch noch auf die Nase fallen. Ich helfe Ihnen dann gleich mit Ihren elenden Stiefeln.«
Elende Stiefel? Wenn es nicht so verdammt wehtun würde, hätte Morgan irritiert die Augenbrauen hochgezogen. Er mochte seine Stiefel! Natürlich sahen sie schon ein wenig mitgenommen aus, besonders nach dem, was gestern geschehen war, aber elend waren sie nicht.
»Während Sie gestern sanft geschlummert haben, durfte ich mit Ihren Stiefeln kämpfen – ganz zu schweigen von der Hose.«
Das konnte er allerdings verstehen. Er selbst hatte schon einige Male mit den Jeans und Stiefeln gekämpft, und häufig in unpassenden Momenten. Aber es störte ihn doch, dass er die ganze Zeit besinnungslos gewesen war, während Sam sich mit ihm abgemüht hatte. Und er dankte es ihr mit Lügen …
Schwer atmend ließ er sich auf das Bett sinken, während er sie beobachtete. Ihre kurzen Haare standen zu allen Seiten ab, ihr T-Shirt war verknittert, aber trotzdem wirkte sie so, als würde sie die Ereignisse erstaunlich gut verkraften. Wahrscheinlich half es, noch so jung zu sein. Er schätzte sie auf etwa so alt wie Mara, also Anfang bis Mitte Zwanzig. Er ignorierte den inzwischen schon gewohnten Stich, der ihn beim Gedanken an Mara durchfuhr. Um sich abzulenken, konzentrierte er sich ganz auf Sam. Er überlegte, ob er jemals so jung gewesen war wie sie. Vermutlich schon, aber er konnte sich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern. In ihrem Alter hatte er zwei Kinder zu versorgen gehabt. Natürlich nicht seine eigenen, aber er trug trotzdem die Verantwortung für sie. Mit Mühe schüttelte er seine Erinnerungen ab, er konnte jetzt keine Ablenkung gebrauchen.
Morgan blickte auf, als Sam sich abrupt erhob. Ratlos beobachtete er, wie sie hektisch in ihrem Durcheinander zu wühlen begann. Schließlich siegte seine Neugier. »Suchen Sie etwas?«
Sam blickte ihn an, als hätte sie vergessen, dass er
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