Eine Unheilvolle Liebe
Sie hatte das gleiche braune Haar wie meine Mutter und war genauso zierlich. Einen Augenblick lang dachte ich fast, meine Eltern wären wieder vereint und schritten durch die alte Tür von Wates Landing.
»Ich muss nach Hause.« Lena hielt den Notizblock vor sich wie einen Schild.
»Du brauchst nicht zu gehen. Komm mit rein.«
Bitte.
Es war keine höfliche Einladung, ich wollte einfach nicht allein reingehen. Vor ein paar Monaten hätte Lena das sofort begriffen. Aber heute war sie mit den Gedanken woanders.
»Du solltest die Zeit lieber mit deiner Familie verbringen.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und gab mir einen Kuss, aber ihre Lippen berührten meine kaum. Ehe ich etwas einwenden konnte, war sie schon am Auto.
Ich sah ihr nach, wie sie mit Larkins schickem Schlitten unsere Straße entlangfuhr. Lena fuhr nicht mehr mit dem Leichenwagen. Soviel ich wusste, hatte sie nach Macons Tod kein Fuß mehr reingesetzt. Onkel Barclay hatte den Wagen hinter der alten Scheune abgestellt und mit einer Plane abgedeckt. Jetzt fuhr sie Larkins Auto, schwarz, chromblitzend, stromlinienförmig. Bei seinem Anblick war Link völlig ausgeflippt. »Hast du eine Ahnung, wie viele Bräute ich mit dieser Karre aufreißen könnte?«
Ich konnte nicht verstehen, weshalb Lena ausgerechnet mit dem Auto ihres Cousins fuhr, der die gesamte Familie verraten hatte. Als ich sie danach fragte, zuckte sie nur mit den Schultern und sagte: »Er braucht es nicht mehr.« Vielleicht dachte Lena, sie könne Larkin damit bestrafen, wenn sie jetzt sein Auto fuhr. Er war an Macons Tod mitschuldig gewesen, das würde sie ihm nie verzeihen. Ich sah ihr nach, bis der Wagen um die Ecke bog, und wünschte mir, ich könnte mit ihm verschwinden.
Als ich in die Küche kam, kochte schon der Zichorienkaffee – und auch der Ärger. Amma lief mit dem Telefon vor der Spüle auf und ab, alle ein, zwei Minuten legte sie die Hand auf die Sprechmuschel und hielt Tante Caroline über das auf dem Laufenden, was am anderen Ende gesagt wurde.
»Seit gestern haben sie sie nicht mehr gesehen.« Amma nahm den Hörer wieder ans Ohr. »Am besten, du machst Tante Mercy einen Punsch und verfrachtest sie ins Bett, während wir sie suchen.«
»Wen suchen?« Ich sah meinen Vater an, aber er zuckte nur mit den Schultern.
Tante Caroline zog mich zur Spüle und flüsterte mir ins Ohr, so wie es Damen in den Südstaaten zu tun pflegen, wenn etwas zu schrecklich ist, um es laut auszusprechen: »Lucille Ball. Sie ist spurlos verschwunden.«
Lucille Ball war Tante Mercys Siamkatze. Das Tier verbrachte die meiste Zeit damit, an der Wäscheleine angebunden im Vorgarten meiner Tanten hin und her zu laufen, was die Schwestern als Freigang bezeichneten.
»Was soll das heißen?«
Amma hielt die Hand auf den Hörer, kniff die Augen zusammen und schob das Kinn vor. Ich kannte diesen Gesichtsausdruck. »Anscheinend hat jemand ihnen eingeredet, man müsse Katzen nicht anbinden, weil sie immer von selbst wieder nach Hause kommen. Du weißt nicht zufällig, wer das gewesen sein könnte, oder?« Das war keine Frage. Wir beide wussten, dass ich das den Schwestern schon seit Jahren sagte.
»Man hält Katzen nicht an der Leine«, versuchte ich, mich zu verteidigen, aber es war zu spät.
Amma starrte mich finster an und wandte sich an Tante Caroline. »Offenbar sitzt Tante Mercy schon seit Stunden auf der Veranda und starrt auf die leere Auslaufleine an der Wäscheschnur.« Sie nahm die Hand wieder vom Hörer. »Du musst sie ins Haus bringen und ihre Füße hochlegen. Wenn ihr schwindelig wird, dann mach ihr einen Löwenzahntee.«
Ich schlich mich aus der Küche, ehe Amma die Augen noch mehr zukniff. Die Katze meiner drei hundertjährigen Tanten war verschwunden und das war allein meine Schuld. Ich musste Link anrufen und ihn dazu bringen, mit mir durch die Stadt zu fahren und Lucille zu suchen. Vielleicht konnten wir sie ja mit seinen Demobändern aus ihrem Versteck aufscheuchen.
»Ethan?« Mein Vater stand in der Diele, direkt vor der Tür zum Arbeitszimmer. »Kann ich einen Moment mit dir sprechen?« Genau davor hatte mir gegraut; vor dem Augenblick, in dem er sich bei mir für alles entschuldigen und mir erklären wollte, weshalb er sich fast ein Jahr lang nicht um mich gekümmert hatte.
»Klar doch.« Aber ich war mir nicht sicher, ob ich wirklich hören wollte, was er zu sagen hatte. Ich war nicht mehr wütend auf ihn. Seit ich Lena beinahe verloren hätte, dämmerte mir,
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