Eine Unheilvolle Liebe
meine Bücher und rannte los. Ehe Mr Lee seinen nächsten Seufzer ausstoßen konnte, war ich schon nicht mehr da.
Reece sah nicht einmal auf, als ich durch die Tür von Ravenwood stürmte, sondern zeigte wortlos zur Treppe. Ryan, Lenas jüngste Cousine, saß mit Boo auf der untersten Stufe und ließ traurig den Kopf hängen. Als ich ihr über die Haare strich, hielt sie den Finger an die Lippen. »Lena hat einen Nervenzusammenbruch. Wir sollen still sein, bis Gramma und Mutter nach Hause kommen.«
Es war eine glatte Untertreibung.
Die Tür stand einen Spalt weit offen, und als ich sie aufstieß, quietschte sie in den Angeln wie in einem Kriminalfilm. Das Zimmer sah aus, als hätte man es auf den Kopf gestellt. Die Möbel waren entweder weg oder umgestürzt und kaputt. Überall lagen Buchseiten herum, zerfetzte, ausgerissene Seiten, sie klebten an den Wänden, an der Decke, am Fußboden. Kein einziges Buch stand mehr im Regal. Es sah aus, als wäre eine Bücherei explodiert. Ein paar verkohlte Blätter auf dem Boden qualmten noch.
Aber von Lena war keine Spur zu sehen.
L? Wo bist du?
Ich sah mich im Zimmer um. Nur die Wand, vor der das Bett stand, war nicht mit den Überresten von Lenas geliebten Büchern gepflastert, sondern mit etwas anderem.
Nobody the dead man & Nobody the living
Nobody is giving in & Nobody is giving
Nobody hears me but just Nobody cares
Nobody fears me but Nobody just stares
Nobody belongs to me & Nobody remains
No Nobody knows Nothing
All that remains are remains
Nobody the dead man. Das war Macon, der tote Mann.
Und wer war der andere Nobody, der noch am Leben war? War das ich?
War ich jetzt ein Niemand?
Mussten sich wirklich alle Jungs derart abzappeln, um aus ihren Freundinnen schlau zu werden? Mussten sie unverständliche Gedichte enträtseln, die mit Filzstift auf Wände oder rissigen Putz gekritzelt waren?
All that remains are remains . Alles, was bleibt, sind Trümmer .
Ich fuhr über die Wand und wischte das letzte Wort weg.
Denn es blieben nicht nur Trümmer. Da war mehr – mehr für Lena und mich und überhaupt. Es gab ja nicht nur Macon auf der Welt. Meine Mutter war auch gestorben, aber die letzten Monate hatten gezeigt, dass ein Teil von ihr immer noch bei mir war. Ich dachte mehr denn je an sie.
Berufe dich selbst . Das war die Botschaft meiner Mutter an Lena gewesen. Sie hatte sie ihr verschlüsselt mithilfe der Seitenzahlen der aufgeschlagenen Bücher mitgeteilt, die damals auf dem Fußboden des Arbeitszimmers verstreut gewesen waren. Ihre Botschaft an mich musste sie mir nicht mitteilen, weder mit Zahlen noch mit Buchstaben, ja nicht einmal in Träumen.
Der Fußboden hier sah so aus wie damals das Arbeitszimmer meiner Eltern, überall lagen aufgeschlagene Bücher. Nur dass diese Bücher keine Seiten mehr hatten. Das war der entscheidende Unterschied und auch die Botschaft war eine ganz andere.
Schmerz und Schuld. In so gut wie jedem Buch über Trauerarbeit, das Tante Caroline mir in die Hände gedrückt hatte, wurden mindestens fünf Phasen der Trauer genannt. Lena hatte Schock und Verdrängung, die ersten beiden Phasen, bereits hinter sich, also hätte ich das hier kommen sehen müssen. Ich glaube, bei ihr äußerte sich die nächste Phase, indem sie sich von etwas trennte, das sie sehr liebte: von Büchern.
Jedenfalls hoffte ich, dass das der Grund war. Vorsichtig stieg ich über die leeren, verkohlten Buchhüllen. Ich hörte ihr ersticktes Schluchzen, noch ehe ich sie sah.
Ich machte die Schranktür auf. Die Knie dicht an die Brust gezogen, kauerte sie in der Dunkelheit.
Ich bin für dich da, L .
Sie blickte mich an, aber ich war mir nicht sicher, ob sie mich wirklich sah.
Die Bücher haben mich so an ihn erinnert. Sie haben mir von ihm erzählt. Ich konnte nichts dagegen tun. Aber jetzt ist alles gut .
Ich wusste, so würde es nicht lange bleiben. Nichts war gut. Irgendwo auf dem Weg zwischen Wut und Angst und Elend war Lena abgebogen. Und aus Erfahrung wusste ich, dass eine Rückkehr unmöglich war.
Am Ende ist dann Gramma eingeschritten. Auf ihre Anordnung hin musste Lena in der nächsten Woche wieder in die Schule gehen, ob sie wollte oder nicht. Sie hatte die Wahl: Schule oder das andere, das niemand laut aussprach. Eine Art Blue Horizons in der Welt der Caster. Bis dahin durfte ich sie nur sehen, wenn ich ihr die Hausaufgaben vorbeibrachte.
Ich trottete also zu ihrem Haus, in der Hand eine Stop&Steal-Tüte voll belangloser
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