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Eine Urwaldgöttin darf nicht weinen

Eine Urwaldgöttin darf nicht weinen

Titel: Eine Urwaldgöttin darf nicht weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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bekommt: »Ich bin kein Feind, ich bin kein fremdes Wesen. Seht mich an! Ich bin ein Mensch wie ihr.« Und dann, in einem indianischen Dialekt, wie man ihn bei Leticia spricht: »Ich bin ein Mädchen! Helft mir!«
    Die kleinen, nackten, bemalten Männer verstanden sie nicht. Sie kamen aus einer anderen, verborgenen Welt. Sie lebten ohne Zeit und Raum unter dem grünen Dach des ewigen Waldes, fischten in den Flüssen, schossen die Nahrung von den Bäumen, waren Tiere unter Tieren, nur daß sie aufrecht gingen, sich verständlich machen konnten und das besaßen, was sie zu Menschen machte: ein denkendes Hirn. Der Dschungel war ihre Welt, für sie war er grenzenlos. Sie begriffen, daß die Sonne Tag und Nacht regelte und damit das Wichtigste auf der Welt war. Sie beteten deshalb die Sonne an und fürchteten die Nacht, es gab Sonnengeister und Dunkelgeister, und deshalb gehörte der Tag den Lebenden und die Nacht den Toten.
    Hier aber war jetzt etwas, das von der Sonne kommen mußte: ein Mensen mit weißer Haut. Ein Mensch aus Licht! Ein Mensch, hell wie die Sonne am Morgen … und sein Haar war faßbares Leuchten, waren Sonnenstrahlen in kleinen Bündeln. Es blendete, wenn man hineinsah. Ein weißer Mensch mit der Sonne auf dem Kopf!
    Die Götter schicken uns eine eigene Sonne –
    Die kleinen nackten Männer breiteten schweigsam die Arme aus, so wie sie jeden Morgen gemeinsam das Licht begrüßten auf dem großen Platz vor ihren Hütten … das neue Licht des Tages, von dem sie jeden Abend befürchteten, daß es nicht wiederkäme. Dämmerte dann doch der Morgen, war der Jubel groß, und das ganze Volk badete sich in den ersten Sonnenstrahlen.
    Das würde jetzt anders sein. Eine kleine Sonne hatten die Götter als Geschenk auf die Erde geschickt. Es konnte gar nicht anders sein. Seht euch nur die leuchtenden goldenen Haare an –
    Die bemalten, lehmbeschmierten Männer sahen sich kurz an. Ebenso lautlos, wie sie aus der halbdunklen grünen Tiefe des Urwaldes aufgetaucht waren, stürzten sie sich alle gemeinsam auf Gloria.
    Fangt die Sonne! Haltet sie fest, unsere ewige Sonne! Wir brauchen nicht mehr Angst zu haben, daß sie nicht mehr scheint. Nie mehr Angst! Wir haben sie in unserem Dorf! Das ewige Licht, die ewige Fruchtbarkeit …
    Sie ergriffen Gloria. Ein süßlicher Geruch umwehte sie und machte sie halb tot vor Ekel. Jetzt wollte sie schreien, aber nun versagte ihre Stimme, nur ein Röcheln brach aus ihr heraus und ging in dem Rascheln der Zweige unter, als die kleinen Männer sie hoch über ihren Köpfen in den Dschungel trugen.
    Wann sie besinnungslos wurde, wußte sie nicht. Sie hörte nur, wie sie »Hellmut! Hellmut! Hilfe!« schrie, aber es mußte kein lauter Schrei sein, denn unbeirrt rannten die kleinen, nackten Männer mit ihr weiter, über einen für Europäeraugen unsichtbaren Trampelpfad, über dem sofort wieder die Wand aus Schlingpflanzen und Buschzweigen zusammenschlug.
    Sie wachte auf, als lauwarmes Wasser über sie sprühte. Dann spürte sie ein leichtes Schaukeln und hörte das leise Klatschen von Paddeln.
    Ich bin in einem Boot, dachte Gloria und rührte sich nicht. Ich bin auf einem Fluß. Jeder Fluß führt in die Freiheit, hat Vater gesagt. Merk dir das, mein Kind. Alle Flüsse münden irgendwo, und da sind Menschen. Du ahnst gar nicht, wo überall Menschen sind. Und auch dieser Fluß mündete irgendwo –
    Sie hielt die Augen geschlossen, und als sie an Hellmut Peters dachte, weinte sie durch die zusammengepreßten Lider und spürte, wie die Tränen über ihr Gesicht liefen.
    Hinter ihrem Kopf mußte einer der kleinen Männer sitzen, denn plötzlich wischte eine schnelle Hand über ihr Gesicht und fegte die Tränen weg. Eine gutturale Stimme stieß ein paar kehlige Laute aus; Worte von merkwürdigem Klang, Urlaute, den Tieren abgelauscht und mit einem menschlichen Sinn versehen.
    Er wird mich suchen, dachte sie. Er wird unseren Spuren folgen. Und er wird den Fluß erreichen und wissen, daß das unbekannte Land seinen Schrecken schon halb verloren hat.
    Sie schlug die Augen auf. Über ihr, gegen den fahl werdenden Abendhimmel sich abzeichnend, sah sie einen der fratzenhaften Köpfe. So schreckenerregend die Visage war, die braunen Augen schienen ihr gütig, durchdrungen von der nie zu beantwortenden Frage: Was ist Leben?
    »Ich bin ein Mensch!« sagte Gloria mutig. »Ich und du … gleich.« Sie hob die Hand und tippte an den bemalten Kopf und dann an sich.
    Der Kopf fuhr zurück und brüllte

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