Eine Urwaldgöttin darf nicht weinen
hatte eine wahnsinnige Sehnsucht nach Ruhe, nach Langliegen, nach völligem Vergessen – aber die Angst um Gloria trieb ihn vorwärts und holte die letzte Kraft aus seinem Körper.
12
Das erste Wunder hatte sich vollzogen, nun warteten die Ximbú, was die weiße Göttin weiter tun würde.
Sie hatten den Kreis geöffnet, in dem Gloria gestanden hatte. Der Medizinmann mit den Knochen auf dem Kopf kam demütig von der Lianenleiter zurück, der alte Häuptling starrte seinem Sohn nach, der hinauf in seine Baumhütte kletterte und vor aller Augen die Göttin beleidigt hatte. Und jetzt tauchten am Rande der Wohnnester die Köpfe der Frauen und Kinder auf, wie Kugeln, die man plötzlich auf eine Mauer gelegt hat.
Gloria schüttelte die Lähmung der Angst ab, die sie überfallen hatte, als der junge Häuptling von ihrem Sofortfoto nicht beeindruckt war. Sie ahnte, daß sie jetzt wieder etwas tun mußte, um ihre unangreifbare Stärke, ihre Macht über alles Lebende zu beweisen.
Sie sah sich um, rannte zu Peters' Rucksack zurück, suchte darin die kleine scharfe Säge und trat mit ihr an einen der dicken Äste, die von einem krumm gewachsenen Baum in den Dorfplatz hingen. Die Stahlsäge mit dem gebogenen Bügel war so klein, daß sie wie eine plötzliche Verlängerung von Glorias Hand aussah, als sie den Ast packte und sich zu den stummen Indios umdrehte.
»Was macht ihr, um diesen dicken Ast vom Baum zu bekommen?« rief sie. Ihre helle Stimme tönte über das ganze Dorf, und auch dieser Laut, diese Sprache mit den für die Indianer seltsam klingenden Zischlauten, verstärkte das Unbegreifbare ihrer Erscheinung. »Ihr schlagt ihn mit euren Steinbeilen mühsam ab. Seht her, wie einfach das für mich ist!«
Sie setzte die Säge an und betete im stillen, daß die Zähne noch so scharf sein möchten, das Holz wie Butter zu schneiden.
Mit einem leisen Kreischen, das wie ein Aufschrei des Baumes klang, fuhr die Stahlsäge in den Ast.
Die Indios standen starr, wie durch ein Zauberwort versteinert.
Der Baum schrie!
Der Baum weinte!
Und als das Sägemehl unter Glorias Hand hervorrieselte, wußten sie, daß der Baum Tränen vergoß.
Vierzehnmal zog Gloria die Säge durch den Ast, dann fiel er mit einem Rauschen zu Boden. Sie hob ihn auf und zeigte ihn den Indios: eine glatte Schnittfläche, glatter und feiner als jeder Schnitt, mit dem man die Brust des Feindes öffnete, um sein Herz herauszuholen.
Die Göttin hat mit der Hand einen Ast zertrennt, und der Baum hat dabei geweint. Die Indios warfen ihre Waffen weg, legten sich mit dem Gesicht flach auf den Boden, einer neben dem anderen, ein lebender Teppich von Gloria bis zu den Bäumen, die die Wohnnester trugen, und erstarrten wieder. Nur der Medizinmann blieb stehen, ruderte mit den Armen durch die Luft und zeigte auf eine Hütte, über deren Rand keine neugierigen Frauen- und Kinderköpfe blickten.
Aha, dachte Gloria. Ich soll in diese Hütte kommen. Was war, wenn sie sich weigerte? Der Umschwung von der Gottverehrung zu Haß und Mord vollzieht sich schnell. Es gibt da ein warnendes Beispiel, das sich Christentum nennt.
Sie zögerte, aber dann setzte sie den ersten Fuß auf den Körper eines der Indios, ging dann weiter, immer auf den Schultern der Krieger, und schritt über diesen lebenden Teppich auf den Medizinmann zu.
Er hielt ihr die Lianenleiter fest, Gloria kletterte an ihr hoch und betrat dann die Plattform aus runden, miteinander verbundenen Hölzern, auf die man die Hütte aus geflochtenen Zweigen gebaut hatte. Ein kunstvolles, ziemlich großes Nest, das auf sechs starken Ästen ruhte und an dem meterdicken Stamm verankert war. Von hier oben hatte man einen herrlichen Blick auf den Dorfplatz, die noch immer liegenden Krieger, den Fluß und den Wald.
»Ich danke euch!« rief Gloria zu den Indios hinunter. »Auch wenn ihr mich nicht versteht, wir werden uns verstehen lernen.«
Sie wartete. Aber es geschah nichts. Die Männer blieben liegen, der alte Häuptling stand inmitten seiner Kette aus Schrumpfköpfen, der Medizinmann ruderte mit den Armen durch die heiße Luft – und alles in einer bedrückenden Lautlosigkeit.
Da drehte sie sich weg, ging in die halbdunkle, seltsam kühle Hütte hinein, kauerte sich auf den Boden und begann zu weinen.
In diesem Augenblick brach draußen die Hölle los. Ein hundertstimmiges Kreischen zerriß die Stille, überall, auf der Erde, in den Bäumen, in den Büschen, schrien die Menschen, klatschten dabei in die Hände
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