Eine verlockende Braut: Roman (German Edition)
genug wäre, seine Warnung in den Wind zu schlagen und der Nacht und der Wildnis allein zu trotzen.
Er wusste nur zu gut, wie erbarmungslos diese Wildnis sein konnte. Ein behütetes englisches Mädel hatte keine Chance, das raue Gelände auf dem Berg zu meistern. Sie würde vermutlich nicht länger als eine Stunde überleben, ehe sie in irgendeinen Bach fiel, bei dem sie von Glück sprechen könnte, wenn sie ertrank, bevor sie erfror, oder über irgendetwas stolpern und in die Tiefe stürzen. Das Bild ihres zarten jungen Körpers, zerschmettert am Boden einer felsigen Schlucht, beunruhigte ihn mehr, als er sich eingestehen wollte.
Jamie wusste, das einzig Vernünftige, was ihm zu tun übrig blieb, war, seine Männer zu wecken und sie in den Wald zu schicken, nach ihr zu suchen. Aber irgendein primitiver Instinkt ließ ihn innehalten. Der Hepburn hatte einen Preis auf seinen Kopf ausgesetzt in dem Augenblick, da er geboren wurde. Er wusste genau, wie es sich anfühlte, durch diese Wälder gejagt zu werden, zu rennen, bis man meinte, die schmerzenden Beine würden einknicken und die Lunge würde platzen; man wusste nie, ob der nächste Atemzug der letzte sein würde. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, dass seine Männer Emma vor sich hertrieben, als sei sie irgendein hilfloses Geschöpf des Waldes. Und am Ende waren sie es, die ihr solche Angst einjagten, dass sie über den Felsen in die Tiefe stürzte.
Jamie ging zum Rand der Lichtung und bog einen tief hängenden Kiefernzweig zur Seite. Während er mit erfahrenem Blick das Unterholz nach heruntergefallenen Nadeln und abgebrochenen Ästen absuchte, machte sich allmählich ein Lächeln auf seinem Gesicht breit. Es schien, als hätte Miss Marlowe eine Fährte gelegt, der sogar ein Blinder folgen konnte.
Emma lief durch den Wald, dachte nur an Flucht. Sie wusste, sie hatte keine Chance, allein wieder den Berg hinab zurückzugehen, aber wenn sie genug Vorsprung vor Sinclair und seiner Bande Schurken hatte, konnte es ihr vielleicht gelingen, einen hohlen Baum zu finden oder eine andere geschützte Stelle, wo sie warten konnte, bis die Männer des Earls kamen, um sie zu retten. Sie konnte anhand des steilen Abhangs und der Häufigkeit, mit der sie über ihre eigenen Füße gestolpert war, erkennen, dass sie sich wenigstens in die richtige Richtung bewegte: bergab.
Der Wald war völlig anders als die Wälder, die an den Landsitz ihres Vaters in Lancashire grenzten. Sie und ihre Schwestern hatten viele angenehme Stunden dort verbracht, als sie noch Kinder waren, Wildblumen gepflückt oder im Herbst Pilze gesammelt oder Piraten und Märchenprinzessin gespielt. Die schützenden Äste von Ulmen und Eichen waren locker um den Stamm angeordnet, mit genug Platz dazwischen, dass goldener Sonnenschein bis auf den Waldboden fallen konnte. Die moosigen Senken und seichten Täler wirkten mehr wie ein Park als ein Wald.
Diese Wildnis hier jedoch ähnelte mehr dem finsteren Wald aus einem schaurigen Märchen – ein Ort, an dem die Zeit jahrhundertelang stehen geblieben war und ein hungriger Menschenfresser jederzeit hinter einem Baum hervorspringen konnte, um einen zu verschlingen.
Die dicht miteinander verwobenen Zweige über Emmas Kopf ließen nur widerwillig den einen oder anderen Strahl des Mondlichts hindurch. Als sie einen rutschigen moosbewachsenen Abhang hinabkletterte, hallte ihr ihr eigener Atem laut in den Ohren wie das Keuchen eines verzweifelten wilden Tieres.
Sie musste erst noch über irgendetwas stolpern, das auch nur entfernt an eine Straße oder einen Weg erinnerte – was vermutlich nur gut war. Das Letzte, was sie gebrauchen konnte, war, es für Sinclair und seine Männer leicht zu machen, ihr zu folgen.
Während sie rannte, blieb sie immer wieder an Ästen hängen; ihre knorrigen Finger schlugen ihr ins Gesicht und zerrissen die zarte Seide ihres Kleides. Ein schmerzliches Schluchzen entrang sich ihr, als sie mit dem linken Fuß auf einen spitzen Stein trat. Die dünnen Sohlen ihrer Ziegenlederschuhe boten wenig Schutz für ihre empfindlichen Füße. Sie hätte genauso gut barfuß sein können. Sie verzog das Gesicht, als sie durch das eisige Wasser eines flachen Baches lief, dabei wusste, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis die leichten Schuhe ganz aufgaben und ihre Füße schutzlos den Elementen und dem Erdboden auslieferten. Was gäbe sie nicht für die festen Halbstiefel, die sie unter ihrem Bett zu Hause stehen hatte. Ihre Mutter hatte sich
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