Eine Versammlung von Krähen (German Edition)
verschlafen, und allzu falsch lag sie damit sicher nicht. Er hatte zum Beispiel den 11. September verpennt. Erst spät an jenem Tag war er im Studentenwohnheim aufgewacht und hatte sich gefragt, warum alle übrigen Bewohner weinend auf den Fernseher im Gruppenraum starrten. Seit Artie Vater geworden war, bestand seine größte Angst darin, das Baby könnte weinend aufwachen, weil es vielleicht Hunger hatte, eine frische Windel brauchte oder wegen eines Albtraums zitterte, und er würde nichts davon mitbekommen. Deshalb war er so dankbar, dass Laura nachts für Artie junior aufstand, und deshalb graute ihm vor den seltenen Nächten, die sie außer Haus verbrachte.
Sie hatten ein Babyfon installiert. Über dem Kinderbett des kleinen Artie hing eine Kamera, die ein Videosignal an den Empfänger übermittelte, und der war an den Fernseher im Schlafzimmer angeschlossen. Da Laura nicht hier war, hatte Artie die Lautstärke des Fernsehers voll aufgedreht, bis das Gerät den Raum mit statischem Rauschen und den leisen Atemgeräuschen seines Sohnes erfüllte. Dann hatte er sich im flackernden Lichtschein mit seinem Laptop im Bett zurückgelehnt und sich mit einem Computerspiel abgelenkt. Es war noch früh – zu früh zum Schlafen –, aber der kleine Artie war müde und quengelig gewesen, und Artie wusste aus Erfahrung, dass man die Gelegenheit nutzen sollte, Schlaf zu tanken, wenn das Baby schlief. Er nahm sich vor, die Augen zuzumachen und zu dösen, sobald ihm das Spiel langweilig wurde.
Aber es war anders gekommen. Er war beim Zocken weggedämmert und hatte gerade noch die Geistesgegenwärtigkeit besessen, den Laptop neben sich zu schieben, bevor er ins Reich der Träume eintauchte. Artie verschlief den Stromausfall und bekam nicht mit, dass der Laptop, der Fernseher sowie der Empfänger der Babyüberwachungsanlage erstarben. Er verschlief das Geheul der Hunde, die entsetzten Schreie und die zahlreichen Schüsse. Er verschlief die Explosion. Er schlief, während seine Nachbarn in ihren Häusern und auf der Straße ermordet wurden. Er schlief, sabberte sein Kissen voll und schnarchte leise, als zwei dunkle Gestalten sein Haus betraten. Er schlief, ohne zu ahnen, dass sich in Artie juniors Kinderzimmer eine große schwarze Krähe auf dem Rand des Bettchens seines Sohns niedergelassen hatte. Er schlief, als sich die Krähe verwandelte. Er schlief selbst dann noch, als sich die Schlafzimmertür öffnete und ein Schatten über ihn fiel.
Erst als das Baby schrie, wachte er auf, und da war es bereits zu spät.
Das Letzte, was er wahrnahm, war die Gestalt, die sich bei ihm im Zimmer befand. Das Gebrüll des Babys schwoll zu einem schrillen, verängstigten Kreischen an. Artie schreckte hoch und schleuderte die Laken von den Beinen, doch bevor er von der Matratze aufspringen konnte, stürmte der Eindringling neben ihn und ragte über ihm empor. Finsternis verbarg das Gesicht des Mannes. Der Fremde stieß ihm eine kalte Hand gegen die Brust und drückte ihn zurück aufs Bett. Im Kinderzimmer verstummten die Schreie von Artie junior abrupt.
»W-wer …«
»Schrei«, forderte der Schatten Artie auf. »Es ist besser, wenn du schreist.«
Das Hämmern an Axels Tür wurde lauter und eindringlicher. Das Kettenschloss klapperte, und die Tür zitterte im Rahmen. Kerzenlicht flackerte und warf seltsame Formen an die Wände. Das Hämmern setzte erneut ein. Axel hielt seinen Spazierstock wie einen Knüppel, schlich sich ins Wohnzimmer und spähte durch die Vorhänge. Jean Sullivan stand auf seiner Veranda, hielt Bobby in einem Arm und trommelte mit der anderen Faust gegen die Tür. Axel atmete vor Erleichterung auf, senkte den Stock, eilte in den Hausflur und wollte gerade aufmachen, als Jean erneut zu klopfen begann.
»Mr. Perry? Axel? Hier ist Jean von nebenan. Bitte lassen Sie uns rein!«
Sie klang panisch. Axel zog die Kette aus der Halterung und drehte am Knauf.
»Was ist denn passiert?«, fragte er, als die Tür aufschwang.
Jean stolperte ins Haus. Bobby klammerte sich an ihr fest, hatte die Arme und Beine um seine Mutter geschlungen. Der Junge wirkte zu Tode verängstigt. Axel starrte die beiden besorgt an.
»Was ist?«, hakte er abermals nach.
»Haben Sie mein Klopfen nicht gehört? Oder das Tohuwabohu draußen?«
»Nein«, gestand er. »Ich höre in letzter Zeit nicht mehr so gut. Ich bin reingegangen, als die Hunde anschlugen. Wollte mir einen Happen zu essen machen, aber als dann der Strom ausfiel, beschloss ich, zu
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