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Eine Vorhaut klagt an

Eine Vorhaut klagt an

Titel: Eine Vorhaut klagt an Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shalom Auslander
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keinen. Einer hatte nicht mal einen Bart. Und dennoch war es dieselbe Religion, dieselbe Tora, es waren dieselben Gesetze und Bräuche. Gott würde sie alle zerschmettern. Tot , dachte ich. Die sind alle tot .
    Die Jungen trugen statt der riesigen schwarzen Samtkipas winzige, nicht regelkonforme, bunte, gestrickte, und die Zizijot ließen sie nicht seitlich an der Hose herunterhängen, wie Gott es befohlen hatte, sondern stopften sie hinein. Einige hatten Schaum in den Haaren.
    Und Mädchen gab es auch.
    Kleine Mädchen, hochgewachsene Mädchen, blonde Mädchen, brünette Mädchen; Deenas und Lisas und Fayes, oje. Mädchen mit Schleifen im Haar, Mädchen, die nach Blumen und Seife rochen, Mädchen in Röcken, die tanzten, wenn sie rannten, und wuschwusch-wusch machten, wenn sie durch die Flure gingen, die ihnen die Hüften hochrutschten, wenn sie die Treppe hinaufgingen.
    Den ganzen Matheunterricht hindurch (Mathe!) huschten winzige pelzige Tierchen in meinem Innern herum, denn den besuchten, unter den vier wachsamen horngefassten Augen Rabbi Lehnsherrs, Jungen und Mädchen gemeinsam. Die Hälfte der Jungen ging in das Klassenzimmer der Mädchen, und die Hälfte der Mädchen kam in das der Jungen, und dann roch das Zimmer wie eine Wiese, wie tausend Wiesen, die mit einem feinen, wohltuenden Nebel aus Aqua-Net-Haarspray überzogen waren, und ich sog ihn tief ein, wenn sie vorübergingen, und die Absätze ihrer glänzenden schwarzen Schuhe machten auf dem harten Fliesenboden eine zarte Musik, klick-klack-klick-klack.
    – Sind diese Kurven phasengleich?, fragte Rabbi Lehnsherr eines Tages und zeigte auf die Tafel.
    – Fayes wie?, fragte Ari.
    Alle lachten.
    Mir war kotzübel.
    Ich saß da mit gesenktem Kopf, wie es mir die Rabbis von meiner alten Jeschiwe geraten hatten, und versuchte, über die Tora nachzudenken, selbst während die kleinen Wesen in mir auf dem pelzigen Rücken lagen und mit ihren winzigen Klauenfüßen in der Luft strampelten.
    Die sind so gut wie tot , dachte ich. Jeder Einzelne.
    Am Ende der ersten Woche fragte ich mich, ob meine alten Rabbis etwa doch recht hatten, ob ich tatsächlich der nächste große Anführer des jüdischen Volkes war. Bestimmt wären sie dann stolz auf mich gewesen; ich mochte wohl ein Fremder in einem fremden Land gewesen sein, bislang jedoch widerstand ich der wollüstigen Versuchung, der König David selbst – und Lot und Amnon und Ahab und Simri und Samson und Lemach – nicht hatte widerstehen können. Und dann, eines Sonntagnachmittags, ich spielte in dem Wald hinter meinem Haus, entdeckte ich hinter einem großen Stein an der Carlton Road einen Haufen Pornohefte. Ich nahm einen Stock und stupste eines an und prallte zurück, als es sich beim Bild einer nackten Chinesin öffnete, die auf dem Rücken lag. Ihre Beine waren weit gespreizt. Sie hatte einen Finger in der Vagina. Und unter dem Bild stand:
    Bums meinen Honigtopf.
    Die Weisen sagen uns, die Tora sage uns, Gott prüfe uns täglich. Manchmal ist die Prüfung ein Stück nichtkoschere Pizza. Manchmal ist die Prüfung üble Nachrede. Und manchmal ist die Prüfung eine Zeitschrift namens Shaved Orientals .
    Ich ließ den Stock fallen und lief davon.
     
    Deena Seigman schnaubte, wenn sie lachte. Ihre Nase war ein wenig zu groß, und ihre Augen standen ein wenig zu dicht beieinander, doch sie waren schön, und ihre Nase war schön, und wenn sie im allzu kurzen Matheunterricht vor mir saß, schaute ich sehnsuchtsvoll auf ihre braunen Kraushaare und hoffte, ich könnte sterben und, wenn auch nur für einen Augenblick, in dieses Leben als der glänzende rote Haarclip auf ihrem Kopf zurückkehren. Oft tat ich, als sei ich müde, legte den Kopf auf das Pult und streckte den Arm aus, so dass ihre Haare mir, wenn sie sich zurücklehnte, über die Handrücken strichen, und dann schloss ich die Augen und presste mir dieses Gefühl in die Gedanken, eine getrocknete sündige Blume, deren Schönheit bis in alle Ewigkeit gefangen war. Dann machte sie ts, nahm die Haare über die Schultern und beugte sich nach vorn.
    – Auslander, rief Rabbi Lehnsherr. – Sitz aufrecht.
    Rabbi Lehnsherr stand vor der Klasse und zeigte auf die verschiedenen Formen, die er an die Tafel gezeichnet hatte: Trapez, Rhombus, Ellipse. Und ich konnte immer nur an eines denken: Honigtöpfe.
    Meine Eltern arbeiteten bis zum Spätnachmittag, und wegen der geringeren Stunden an meiner neuen Jeschiwe war ich häufiger allein zu Hause als je zuvor. Ich

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