Eine wie Alaska
Labyrinth des Leidens heraus?«
»Was hast du?«, fragte ich. Ich spürte, dass sie die Hand weggenommen hatte.
»Nichts hab ich. Aber es wird immer Leiden geben, Pummel. Hausaufgaben oder Malaria oder einen Freund haben, der weit weg ist, wenn man einen hübschen Jungen neben sich liegen hat. Leiden ist immer und überall. Das ist die große Frage, die sich Buddhisten, Christen und Moslems stellen.«
Ich sah sie an. »Ach, dann ist der Kurs von Dr. Hyde doch nicht so übel.« Und während wir beide auf der Seite lagen, lächelte sie, und unsere Nasen berührten sich fast, meine Augen ruhten auf ihr, ohne zu blinzeln, ihr Gesicht war leicht gerötet vom Wein, und ich öffnete den Mund, diesmal nicht um zu sprechen, doch sie hob die Hand, legte einen Finger auf meine Lippen und sagte: »Pscht. Pscht. Mach es nicht kaputt.«
Fünfzig Tage vorher
Am nächsten Morgen hörte ich ihr Klopfen nicht, falls sie überhaupt geklopft hatte.
»AUFSTEHEN! Weißt du, wie spät es ist?«
Ich sah auf den Wecker und murmelte verschlafen: »Es ist sieben Uhr sechsunddreißig.«
»Nein, Pummel. Es ist Partyzeit! Nur noch sieben Tage, bis alle zurückkommen. Oh Gott, ich kann dir gar nicht sagen, wie schön es ist, dich hier zu haben. Die letzten Herbstferien hab ich komplett damit verbracht, aus allen meinen Kerzen eine große Kerze zu machen. Gott, war das langweilig. Ich hab die Fliesen an der Decke gezählt. Siebenundsechzig runter, vierundachtzig rüber. Wo wir von Leiden reden. Das war die reine Folter.«
»Ich bin echt müde. Ich –«, stöhnte ich, doch sie schnitt mir das Wort ab.
»Armer Pummel. Armer, armer Pummel. Soll ich zu dir ins Bett kommen und kuscheln?«
»Na ja, wenn du unbedingt willst –«
»NEIN! AUFSTEHEN! SOFORT!«
Sie schleppte mich zu dem Haus, in dem die Tagestäter wohnten – Zimmer 50 bis 59 –, blieb vor einem Fenster stehen, drückte die Hände gegen die Scheibe und schob das Fenster hoch. Dann kletterte sie hinein. Ich folgte ihr.
»Was siehst du, Pummel?«
Ich sah ein Internatszimmer – die gleichen Ausmaße, die gleichen unverputzten Wände, selbst die Möbel waren genauso aufgestellt wie bei uns. Nur das Sofa war schöner, und statt eines COUCHTISCHS gab es einen echten Couchtisch. An der Wand hingen zwei Poster. Eins zeigte einen riesigen Haufen Dollarnoten, darunter stand: DIE ERSTE MILLION IST DIE SCHWERSTE. An der Wand gegenüber hing das Bild eines roten Ferrari. »Äh, ich sehe ein Internatszimmer.«
»Du schaust nicht richtig hin, Pummel. Bei euch im Zimmer sehe ich ein paar Jungs, die auf Videospiele stehen. Bei mir im Zimmer sehe ich ein Mädchen, das auf Bücher steht.« Sie ging zum Sofa und griff nach einer Plastikflasche. »Sieh dir das an.« Die Flasche war halb voll mit schmierigem, braunem Schleim. Kautabakspucke. »Sie priemen. Und anscheinend nehmen sie es mit Hygiene nicht sehr genau. Hätten sie ein Problem damit, wenn wir auf ihre Zahnbürsten pinkeln? Kein großes, so viel steht fest. Schau genau hin. Sag mir, worauf die Jungs hier stehen.«
»Sie stehen auf Kohle«, sagte ich und zeigte auf die Poster. In gespielter Verzweiflung warf sie die Hände in die Luft.
» Alle lieben Kohle, Pummel. Na schön, geh ins Bad. Sag mir, was du dort siehst.«
Das Spiel ging mir langsam auf die Nerven, doch ich ging ins Bad, während sie sich auf der einladenden Couch niederließ. In der Dusche fand ich ein Dutzend Flaschen Shampoo und Spülung. Im Spiegelschrank fand ich eine Dose mit etwas, das Rewind hieß. Ich machte die Dose auf – das bläuliche Gel roch nach Blumen und Desinfektionsmittel, wie ein teurer Frisörladen. (Unter dem Waschbecken entdeckte ich außerdem eine Vorratsdose Vaseline, die so groß war, dass sie nur einem Zweck dienen konnte, über den ich nicht weiter nachdenken wollte.) Ich kehrte ins Zimmer zurück und berichtete aufgeregt: »Sie stehen auf Haarstyling.«
» Haargenau! «, rief sie. »Sieh mal im oberen Bett nach.« Kühn platziert auf dem schmalen Holzrahmen des Stockbetts stand noch eine Tube Haargel. »Kevins Bettfrisur ist nicht einfach gewachsen, Pummel. Er arbeitet daran. Er liebt sein Haar. Und aus welchem Grund lassen sie ihre Stylingprodukte über die Ferien hier, Pummel? Weil sie das gleiche Sortiment zu Hause noch mal haben. All die Jungs hier. Und weißt du warum das Ganze?«
»Sie kompensieren damit, dass sie einen kleinen Schwanz haben?«, fragte ich.
»Ha ha. Nein. Das kompensieren sie, indem sie solche Macho-Arschlöcher
Weitere Kostenlose Bücher