Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition)
wieder.“
„Nein, Mama. Kim hat Angst, Hannah fängt während der Lesung an zu quengeln.“
„Soll ich denn dann nicht lieber …?“
„Ist schon okay, Mama. Bleib du hier! Hannah würde mit dir nicht gehen. Es macht mir wirklich nichts aus.“ Dann kam er nah an mein Ohr und flüsterte: „Ist ohnehin nicht mein Geschmack, das Buch, meine ich. Ein Unterhaltungsroman, sonst nichts.“ Er sagte das so abfällig.
Wozu sollten Romane denn sonst dienen, wenn nicht der Unterhaltung? fragte ich mich, aber ich war nicht so gescheit wie mein Sohn.
„Edvard hält vorne am Fenster einen Platz für dich frei.“ Dann, bevor er sich mit dem Buggy durch die Menge zwängte, gab er mir einen Kuß auf die Wange. Mein Junge, einen Kuß, freiwillig!
Und dann stand ich allein zwischen all diesen Menschen, die ich nicht kannte. Gott sei Dank hatte Edvard mich entdeckt, denn er winkte mir; langsam arbeitete ich mich zu ihm vor. Dafür, daß es sich um einen Frauenroman handelte, waren erstaunlich viele junge Männer anwesend.
„Huhu!“ rief Edvard und winkte mir. „Hierher.“ Er stand am Fenster mit sehr gepflegten Männern zusammen. Sie lachten viel und stellten ihre schneeweißen Zähne zur Schau. Die Menschen waren hübscher geworden, fand ich. In meiner Jugend hatte niemand so viel Wert auf sein Aussehen gelegt wie heute. Es kam noch ein Mann hinzu, küßte sie auf die Wangen, dann ging das Scherzen weiter.
Edvard war hier noch aufgedrehter als zu Hause, fuchtelte mit seinen Armen in der Luft herum und schnatterte mit den anderen um die Wette. Hätte ich es nicht besser gewußt, ich hätte angenommen, er wäre der Künstler, um den sich hier alles drehte.
Ich stützte mich auf eine Stuhllehne. Zum einen strengte mich diese Drängelei sehr an – der Lärm, die vielen unbekannten Gesichter, die schlechte Luft –, zum anderen wollte ich sie nicht in ihrer Unterhaltung stören.
„Hierher“, rief Edvard mir zu, und die anderen drehten sich nach mir um. Ich tat zwei Schritte nach vorn und blieb an der nächsten Reihe stehen, da kam mir Edvard entgegen, nahm meine Hand und führte mich zu seinen Freunden hinüber.
„Frau Moll, darf ich vorstellen? Das sind Jean-Paul, Barbarella und Lipstick. Jungs, das ist Bernhards Mutter.“
„Guten Tag“, sagte der Herr, den mir Edvard als Barbarella vorgestellt hatte; er war groß und ungelenk und blinzelte schüchtern. Seine Hand fühlte sich rauh an; sie sah ziemlich verschrammt aus.
„Freut mich sehr“, sagte ich.
Jean-Paul war ein hübscher junger Mann mit dem Lächeln eines Hollywoodstars. Er war sich durchaus bewußt, wie attraktiv er auf andere wirkte. Wie eine griechische Statue durfte man ihn bewundern, ja, das würde ihm bestimmt gefallen, aber die marmorhafte Kühle blieb. Nichtsdestotrotz ein sehr sympathischer junger Mann. Bestimmt homosexuell, dachte ich mir.
„Lipstick? Ein wirklich seltener Name“, sagte ich, während ich seine Hand hielt. „Ist das polnisch?“
Edvard und Jean-Paul grienten, Barbarella legte sich die Hand vor den Mund und wurde rot.
„Nein, Frau Moll“, erklärte Edvard. „Das ist englisch für Lippenstift.“ Woher sollte ich das denn wissen?
„Entschuldigen Sie bitte. Eddi ist wirklich unmöglich. Er nennt mich so, weil ich in der Parfümerieabteilung vom Kaufhof arbeite.“
„Lipstick ist die beste in der Stadt“, fügte Edvard hinzu und klopfte ihm auf die Schulter.
Die? fragte ich mich.
Der junge Mann neigte sich zu mir herunter. „Mein richtiger Name ist Ottfried Maier“, flüsterte er mir zu. „Kein wirklich berauschender Name, nicht wahr? Lipstick ist mir tatsächlich lieber als Otti. Inzwischen nennt mich jeder so.“
„Freut mich, Herr Lipstick.“
„Einfach nur Lipstick, Frau Moll. Lipstick. Mehr nicht.“
„Und gefällt Ihnen München?“ fragte Jean-Paul.
„Ich bin sehr angetan. So eine herrschaftliche und prunkvolle Stadt“, antwortete ich. „Und mein Sohn kennt so viele nette Menschen. Es ist wirklich sehr schön hier.“
„Wie lange bleiben Sie denn?“ fragte Lipstick.
Ich schaute Edvard an. „Nun, ich glaube, daß ich morgen wieder zurückfahren werde.“
Er widersprach mir nicht; damit war es wohl beschlossene Sache.
„Aber Sie kommen bestimmt bald wieder“, sagte der Freund meines Sohnes, legte seine Hand auf meinen Arm und drückte mich. „Nicht wahr, Frau Moll? Bei uns kann man es doch aushalten.“
Dann trat ein anderer Herr hinzu; er war ganz in schwarz gekleidet, in einem
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