Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition)
langen Mantel, als ob er Trauer trüge. Er war deutlich älter als die anderen, kam mir aber trotzdem sehr jugendlich vor. Sein Blick war durchdringend, fast bohrend. Es war die Sorte Mensch, vor der ich mich lieber in acht nahm.
„Hi, Max“, sagte Edvard, umarmte und küßte ihn.
Auch Lipstick und Barbarella grüßten, nur Jean-Paul wendete sich ab. „Ich schau dann mal nach den anderen“, sagte er, winkte und ging schnell davon.
Edvard schaute ihm hinterher, warf dann Max einen Blick zu, der die Augenbrauen hochzog und den Kopf schüttelte. „Nachtragend, die Kleine. Was?“ sagte er.
„Max, das ist Frau Moll, Bernhards Mutter“, stellte Edvard mich vor. „Sie ist ein paar Tage zu Besuch.“
Der Neue nahm meine Hand zwischen seine Hände und schüttelte sie kräftig. „Hallo, Frau Moll. Maximilian Roth, sehr erfreut.“
Da tippte Kim ihm auf die Schulter. „Es geht los.“
„Okay.“ Und dann zu uns: „Wir sollten uns setzen.“
Die Luft war schon sehr stickig, als ein Herr von Anfang Fünfzig sich Gehör verschaffte und sich als Verleger vorstellte. Er steckte in einem mausgrauen Anzug, der ihm zu eng war – die Haut über seinem Hemdkragen warf Falten –, sein Haar war zerzaust, aber er hatte eine schöne, ruhige Stimme.
Er begrüßte die Zuhörer freundlich und sagte, daß er Kim Davideit dafür danke, daß sie sich bereit erklärt hatte, aus dem Romanerstling von Rothild Schön zu lesen, einer jungen Deutschen, die seit fünfzehn Jahren in Amerika lebte. Er verwies noch darauf, daß man am Ende der Lesung Fragen stellen könne und übergab dann sogleich an Kim.
„Es freut mich“, sagte Kim, „daß sich so viele von Ihnen die Zeit genommen haben, an diesem wunderschönen sonnigen Sonntagmittag …“ Bewundernswert, wenn so ein junges Ding sich vor so viele Menschen hinstellen und frei sprechen kann; in meiner Jugend war das für Frauen undenkbar.
Sie trug einen dunkelgrauen Hosenanzug und eine weiße Bluse, die einen Blick auf ihr Dekolleté zuließ. Während sie der Anzug unnahbar und fast ein wenig zu seriös erscheinen ließ, verhieß die Bluse das komplette Gegenteil. Kim wirkte ein bißchen wie diese erfolgreichen Geschäftsfrauen, die das Fernsehen gerne vorführt, deren selbstbewußtes Auftreten aber eher abschreckte.
Nachdem sie die Zuhörer begrüßt hatte, setzte sie sich, bog das Mikrofon zurecht, nippte am Wasserglas und schlug die Beine übereinander.
„‚Hab ich dir eigentlich schon mal gesagt, wie hübsch du bist?‘“, las Kim, „‚so früh am morgen, wenn deine Haare verlegt sind?‘ fragte Richard.“ Sie schaute auf, richtete ihre Augen ins Publikum und las weiter: „‚Ja, gestern‘, antwortete ich, ‚und vorgestern und vorvorgestern und an jedem Morgen der letzten Woche.‘ ‚Dann wird es wohl stimmen‘, sagte er, nahm meinen Kopf zwischen seine warmen Hände und küßte mich auf die Stirn.“ Kim schaute wieder auf: „Ich wollte ihn boxen, ich wollte es jedesmal, wenn er das sagte. Richard und ich sind nun seit bald einundzwanzig Jahren verheiratet, wir haben eine neunzehnjährige Tochter Daniella und einen vierzehnjährigen Rabauken, Robbie, und unseren Jack Russell-Terrier Shadow. Richard war der beste Mann, den ich mir wünschen konnte: aufmerksam, liebevoll, fürsorglich; und trotzdem, ich glaubte ihm einfach nicht.“
Es war angenehm, Kim zuzuhören. Sie schaffte es, daß die Geschichte wie ein Film vor meinen Augen ablief. Die Handlung war aus der Perspektive der jungen Emily Webber geschrieben, einer Frau Anfang Vierzig, die glaubte, eine sehr glückliche Ehe zu führen. Ihr Mann, Richard, der in den siebziger Jahren Kunst studiert hatte, entwarf außergewöhnliche Turnschuhe sowie die entsprechenden Marketingstrategien, um sie „an den Fuß“ zu bringen. Seine Ideen hatten sich ausgezahlt. Sie lebten in einem Haus am Meer, ihre Tochter studierte in New York, und Emily führte einen kleinen Laden in der Stadt, in dem sie Kosmetikbehandlungen anbot und besondere Kräuter verkaufte, Badesalze, Pflegeprodukte.
Die Webbers leben eigentlich ein perfektes Leben – aber nur eigentlich, denn Emily, die heimlich von Selbstzweifeln geplagt ist, wird von einem wesentlich jüngeren Mann der Hof gemacht. Anfänglich wehrt sie sich vehement gegen seine Annäherungsversuche, aber seine junge unschuldige Art erinnert sie bald an Wünsche, die sie lange aufgegeben hatte. Die Ehekrise ist vorprogrammiert.
Ich versuchte mir Rothild Schön vorzustellen:
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