Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition)
mit dem Wetter? Überall wo ich bin, werde ich von Prognosen verfolgt: Auf den Monitoren im U-Bahnhof, in der Zeitung, in den Nachrichten. Und dann kommt der nächste Tag, und es ist doch ganz anders.“
Er machte uns auf Kleinigkeiten aufmerksam, die wir bis dahin für selbstverständlich hingenommen hatten. So auch auf die Inschrift auf dem Siegestor, das dem bayrischen Heer gewidmet ist. Auf der Südseite steht geschrieben: „Dem Sieg geweiht, vom Krieg zerstört, zum Frieden mahnend.“
„Wie kann man etwas dem Sieg weihen und damit gleichzeitig zum Frieden mahnen?“ fragte Malvyn. „Das ist doch paradox. Wenn einer siegt, dann gibt es immer einen, der verliert. Und Sieger und Verlierer können nie Frieden haben.“
Ich dachte eine Weile darüber nach und kam dann zu dem Schluß, daß man mit dieser Inschrift vermutlich zeitlich aufeinanderfolgende Phasen beschreiben wollte und nicht gleichzeitig existierende: Ursprünglich war es dem Sieg geweiht, heute soll es zum Frieden mahnen.
Ja, so einfach lassen sich manchmal Rätseln lösen, die auf den ersten Blick unlösbar erscheinen. Und trotzdem gingen mir Malvyns Worte lange nicht aus dem Kopf: „Wenn einer siegt, dann gibt es immer einen, der verliert. Und Sieger und Verlierer können nie Frieden haben.“
Edvard *
Malvyn und Bernhard verstanden sich auf Anhieb. Das hatte einerseits etwas mit dem Lehrer in Berni zu tun, der es genoß, einen aufmerksamen Schüler zu haben; ich habe ihn selten so lebendig erlebt wie während dieser stundenlangen Gespräche mit meinem Neffen. Malvyn lockte ihn aus seiner Höhle, und Bernhard, Meister aller Mauern, öffnete sich, wie eine Morning Glory bei Sonnenaufgang.
Andererseits hing das sicherlich auch mit Malvyns erotischer Ausstrahlung zusammen. Lange habe ich es mir nicht eingestehen wollen, aber Berni stand auf ihn und zwar heftig. Er beobachtete den Jungen mit ganz anderen Augen als wir, und wenn er seine nackte Haut zu sehen bekam, gingen sie ihm regelrecht über. Ich hätte eine Kiste Champagner verwettet, daß mein Mann Malvyn lieber jetzt als gleich geküßt hätte.
Während sich mein Neffe mit Bernhard über langweilige Themen wie Felsbilder, die Torwa-Dynastie und das Rozwi-Reich unterhielt – das sind nur ein paar Stichworte, die ich im Vorbeigehen aufschnappte –, fragte er mich nach unseren Freunden und unserem Leben aus. Er stellte Fragen wie: „Verhält sich Lipstick immer so … übertrieben?“ Dazu muß man wissen, daß Lipstick eine queen ist, wie sie im Buche steht. Oder: „Dieser Jay Pee. Er starrt mich so an. Leidet er an einer Augenkrankheit oder so was?“
Was hätte ich darauf antworten sollen? Das Einfachste wäre natürlich die Wahrheit gewesen, aber trotz Erlaubnis meines Vaters umschiffte ich das Thema Homosexualität mit aller Gewalt. Und da Malvyn es nie direkt ansprach, da er nie fragte, warum Bernhard und ich in einem Bett schliefen, beließ ich es auch dabei.
Malvyn hatte nicht nur Fragen, manchmal sagte er mir auch seine Meinung zu unseren Freunden, zum Beispiel nach dem Essen mit Max – wofür ich mir natürlich eine Abreibung einhandelte; inzwischen warnte ich Berni nicht mal mehr vor, wenn ich Max einlud, und wenn er dann fragte, tat ich so, als hätte er den Termin schon lange gewußt, was ihn zum Wahnsinn trieb, aber er mich auch.
An diesem Abend war Max so wie immer gewesen: intelligent, unterhaltsam, aber zurückhaltend und er sprach natürlich ununterbrochen über Wein und Zigarren. Malvyn dagegen war stiller als sonst. Er antwortete, ja, er stellte auch die eine oder andere Frage, aber etwas beschäftigte ihn, das konnte ich sehen. Immer wieder ertappte ich ihn dabei, wie er zu Max hinüberschielte.
„Ich glaube, Max ist ein ziemlich trauriger Mensch“, sagte Malvyn am nächsten Nachmittag, den Bernhard mal wieder in der Bibliothek verbachte.
„Traurig?“
„Ja. Er hat sich im Netz der Zeit verheddert.“
„Bitte?“
„Wie eine Spinne knüpfen wir ein großes Netz“, erklärte er mir seine Philosophie vom Leben. „Unsere Erlebnisse und Erfahrungen sind die kleinen Knoten. Max hat von einer dieser Verbindungen einen Faden zuviel geknüpft und ist daran hängengeblieben. Er muß diesen Faden durchtrennen, damit er wieder frei ist.“
Zu gern hätte ich Malvyn von Christian erzählt, beziehungsweise ihm Max’ Buch zum Lesen gegeben. Vielleicht hätte dieser junge Mann, der aus einer ganz anderen Welt kam, ihm helfen können, endlich eine Beziehung
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