Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition)
einzugehen. Aber das konnte ich nicht, denn spätestens dann hätte ich Malvyn erklären müssen, daß wir schwul waren.
Es gab einige Gründe, warum ich unseren Besuch lieber heute als morgen nach Hause geschickt hätte. Aber er war auch eine unglaubliche Bereicherung. Malvyn hatte eine Art, im Leben zu sein, wie ich es mir immer schon gewünscht hatte: gelassen, wachsam, immer im Moment. Verdammt, dachte ich, andere meditieren dafür ein Leben lang!
Die abendliche Räucherung unseres Schlafzimmers kam mir plötzlich so lächerlich vor. Statt am Morgen die Fünf-Tibeter-Übungen zu machen, unterhielt ich mich lieber mit Malvyn. Ich fragte mich, wofür ich mich jeden Abend vor dem Schlafengehen mit Affirmationen abquälte, wenn dieser Bengel ohne solche Rituale eine Leichtigkeit und Ruhe an den Tag legte, die mich mit Neid erfüllte. Und bald zog ich auch meine Buddha-Bänder nicht mehr an. Das passierte natürlich nicht so überlegt, in dem ich mich vor den Spiegel stellte und sagte: „Edvard, diese Perlenketten an deinem Handgelenk sind Schrott. Laß sie liegen.“ Ich zog sie einfach nicht mehr an. Ich wachte auf, ging unter die Dusche, und als ich mich an die Kommode stellte und mir überlegte, welche Steine mich heute unterstützen würden, da waren keine dabei.
Die schönen Tage, die uns dieses Jahr sehr früh beschert hatte, waren bald auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Und wenn Bernhard keine Sonne sah, Mann, dann sah er keine Sonne. Er würde das leugnen, aber bei schlechtem Wetter kam er so mies drauf, daß man es mit ihm kaum aushielt.
Nach einer Woche grauen Himmels war es mal wieder soweit. An einem Dienstag nachmittag, wir waren gerade in der Innenstadt angekommen, um mit Hannah ein Eis essen zu gehen, da machten die Wolken auf und ließen ihre ganze Trauer auf unsere bloßen Häupter herabprasseln. Bernhard ließ eine Haßtirade über das Wetter los – wäre ich Petrus, ich hätte den Hahn schnell wieder abgedreht. Und Malvyn? Er legte den Kopf in den Nacken, riß Augen und Mund weit auf, breitete die Arme aus, als wäre er eine ausgedörrte Pflanze, die sich öffnete, um möglichst viel des kostbaren Elements aufzufangen. Dann begann er aus der Tiefe seiner Seele ein Lied zu singen: „Mvura naya tidge mopunga.“ Er wiederholte diese Silben immer wieder und drehte sich dabei um die eigene Achse.
Wir starrten ihn an wie einen, der gerade dabei war, den Verstand zu verlieren. Aber Hannah war schnell infiziert und tat es ihm nach. Malvyn streckte ihr seine großen, hellen Handflächen entgegen, sie legte ihre Patschhändchen hinein, dann tanzten sie einen Reigen. „Mvura naya tidge mopunga“ – natürlich konnte sie das nicht nachsprechen, stammelte statt dessen irgendwelchen Kauderwelsch, dazwischen kicherte sie, als würde jemand sie kitzeln. Sie war einfach zum Fressen.
Ich merkte, wie sich meine Stimmung im Nu wandelte, wie ich leicht und freudig wurde und der Regen mir nichts mehr ausmachte. Im Gegenteil, er amüsierte mich. Malvyn ließ eine von Hannahs Händen los und streckte seine nach mir aus. Kurz durchzuckte mich ein Schrecken; wie ein Irrer kam ich mir vor, hier, mitten in der Fußgängerzone, zwischen all den Menschen, die ihre sauren Gesichter unter Regenschirmen verbargen. Aber ich konnte mich nicht wehren; ich schlug ein und tanzte mit. „Mvura naya tidge mopunga.“ In der nächsten Runde packte ich Bernhard und zerrte ihn mit. „Mvura naya tidge mopunga.“
Als wir unseren Reigen abbrachen, waren ein paar Menschen stehengeblieben. Eine Touristengruppe von Japanern, die uns filmte, aber auch einige Münchnerinnen, die, mit schweren Einkaufstaschen behängt, ihr Rennen gegen den Alltag unterbrochen hatten. Es war nicht das bißchen Applaus, weswegen ich diesen Moment immer in Erinnerung behalten werde, es war das bißchen Lächeln, das unser Tanz in ihre Gesichter getrieben hatte, und all die Sonne in unser Herz.
„Was haben wir da eigentlich gesungen?“ frage ich Malvyn, nachdem wir weitergegangen waren. Da dieser Spruch unsere Stimmung so nachhaltig veränderte hatte, war ich mir sicher, daß es sich um einen magischen Zauberspruch handelte, den Malvyn von seiner Großmutter gelernt hatte, die als Schamanin auf einem kleinen Dorf Mumps und Liebeskummer austrieb.
„Wir singen das zu Hause, wenn es lange nicht regnet, um die Götter günstig zu stimmen. Es bedeutet so was wie: ‚Komm, o Regen, damit wir Reis essen können‘.“
Ja, Malvyn war ein ganz besonderes
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