Eine wundersame Weihnachtsreise: Roman (German Edition)
Anna milde.
Als sie einen Reisebus auf dem Parkplatz entdeckte, fragte sie sich, ob das der Bus war, von dem die alten Damen vergessen worden waren. Sicherlich nicht. Entweder das Heim hatte sie abholen lassen oder sie hatten genug von ihrem Urlaub auf der Raststätte gehabt und sich ein Taxi gerufen. Waren sie vielleicht nicht vergessen worden, sondern abgehauen? Wer konnte das bei den vielen Geschichten, die sie erzählt hatten, wissen?
Als sie die Raststätte hinter sich gelassen hatten, schielte Anna misstrauisch zum Radio, in dem sich Musik und aufgeregt klingende Moderatoren, die jetzt den großen Weihnachts-Countdown einläuteten, abwechselten.
Vielleicht habe ich dieses Schlamassel nur angezogen, weil ich so negativ über Weihnachten gedacht habe. Anna schob die Gedanken über ihre eigene Einstellung fort. Stattdessen begannen die Männer zu erzählen.
»Wenn ich zu Hause bin, werden wir uns ins Auto setzen und zum Bauernhof meiner Eltern fahren. Dort feiern wir dann mit allen vier Familien.«
»Vier Familien?«, platzte Anna heraus, erst dann merkte sie, dass sie hier wohl kein Stimmrecht hatte. Oder doch? Der Fahrer reagierte sehr freundlich.
»Ja, wir vier Geschwister feiern jedes Jahr zusammen. Unsere Eltern sind leider schon vor Jahren gestorben, mein älterer Bruder betreibt jetzt den Hof. Der ist so groß, dass wir alle dort reinpassen, inklusive Frauen, Freundinnen, Kindern und den ersten Enkeln. Drei Tage lang verbringen wir unter einem Dach, kochen zusammen, spielen, gehen spazieren, erzählen. Es gibt kaum eine Zeit im Jahr, die schöner ist als Weihnachten.«
Der Versuch, sich das Treiben auf dem Bauernhof des Zollbeamten vorzustellen, geriet reichlich kitschig, fast wie eine dieser furchtbaren Weihnachtssendungen, in denen Schlagerstars Weihnachtslieder sangen. Aber dieses Bild wärmte Annas Herz irgendwie. Es musste schön sein, so gut mit der gesamten Familie auszukommen. Ob sie und Jonathan irgendwann einmal zusammen Weihnachten feiern würden – mit allem Anhang, den sie über die Jahre ansammelten? Auf einmal wünschte sie sich genau das!
»Ich werde mit meiner Frau und den Kindern morgen zur Schwiegermutter fahren«, berichtete nun der Beifahrer, worauf er sogleich mitleidige Bemerkungen von den anderen Männern bekam. Doch er schüttelte den Kopf.
»So schlimm ist der alte Drachen über Weihnachten gar nicht. Klar, sie wird mir wieder vorhalten, dass ich es in der Behörde noch nicht weitergebracht habe, aber sie wird milder, wenn sie erst einmal ein paar von ihren geliebten Sherrys intus hat. Und eins muss man ihr lassen, ihre gefüllte Gans ist klasse! Außerdem ist ihr zweiter Ehemann ein sehr netter Kerl, mit dem gehe ich nach draußen eine rauchen, wenn es doch wieder dicke Luft gibt.«
»Wir werden uns zu Hause einschließen und niemanden reinlassen«, verkündete der dritte. »Endlich mal wieder stundenlang mit meiner Freundin im Bett liegen!«
»Besorg dir dafür mal besser ein paar blaue Pillen, damit du das auch durchhältst!«, lästerte der Fahrer mit der Großfamilie.
»Die brauche ich nicht, wenn ich keinen Stress habe!«, entgegnete Annas Nebenmann und zwinkerte ihr zu. Jetzt erst fiel ihr auf, dass er eigentlich noch gar nicht so alt war, wie ihn seine Uniform gemacht hatte. »Und ihr könnt mir glauben, wir beide werden keinen Finger krumm machen, ich lasse meine Freundin auch nicht in die Küche, wir bestellen uns was.«
»Na, dann solltest du dir gleich mal eine neue Uniform geben lassen – ’ne Nummer größer«, lästerte der Beifahrer, doch den jungen Beamten kümmerte das nicht.
»Wir werden genug Bewegung haben, dass wir den ganzen Kram verbrennen«, entgegnete er nur, worauf die Männer aufjohlten.
Anna grinste in sich hinein. Ob die LKW -Fahrer auch nur die geringste Ahnung davon hatten, dass sich die Männer, die sie kontrollierten oder schlafen schickten, nicht so sehr von ihnen unterschieden?
Bevor die Nachrichten kamen und damit der Reiseruf wiederholt werden konnte, erreichten sie den Ludwigsluster Bahnhof.
»Wo ist denn das Schloss?«, wunderte sich Anna, denn sie waren nur an Wohnhäusern, Tankstellen und einem Autohändler vorbeigekommen. Wenn sie etwas mit Ludwigslust verband, dann das Schloss, das manchmal in Reiseprospekten gezeigt wurde.
»Das liegt weiter drinnen in der Stadt. Aber zum Zollamt müssten wir hier lang. Ist auch der kürzeste Weg zum Bahnhof, und Sie wollen ja sicher möglichst schnell nach Hause, oder?«
Anna
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