Eine zweite Chance für den ersten Eindruck (German Edition)
nichts an der Ausgangssituation.
Bevor Jule weiter stochern kann, kommt Lucy auf uns zugerannt. Lucy ist ein sehr offenes und liebes Mädchen. Mit langen, pechschwarzen Locken und stahlblauen Augen, ist sie ein Ebenbild ihres Vaters. Lucy ist Erics Tochter. Sie ist nicht in meiner oder Jules Gruppe und hat sich dennoch mit jeder greifbaren Erzieherin vertraut gemacht.
„Hallo Miss Nina“, sagt sie mit starkem amerikanischen Akzent. Wir sind von unserer Chefin angewiesen worden, mit ihr ausschließlich Deutsch zu sprechen, auch wenn sie uns auf Englisch anspricht. Aber sie macht sich verdammt gut, für die kurze Zeit, die sie erst in Deutschland ist.
„Hey Lucy. Ist alles in Ordnung?“, frage ich. Sie klettert neben mich auf die Bank und lässt ihre Beine in der Luft baumeln. Für einen Moment scheint sie um Worte zu ringen, bis sie schließlich sagt: „Yesterday war mein Birth… Geburts…tag.“
„Hey, das ist ja toll. Herzlichen Glückwunsch nachträglich. Wie alt bist du denn geworden?“
Lucy wiegt einen Moment ihren Kopf hin und her.
„I’m four now. Vier ich bin.“
„Das ist toll. Hattest du eine schöne Party?“
„Yeah. My dad, he gave me… Er hat mir ein dollhouse gegebt.“
„Du meinst, er hat dir ein Puppenhaus geschenkt.“
Lucy sieht mich verständnislos an. „That’s what I said“, antwortet sie genervt, bevor sie wieder abzieht.
Am späten Nachmittag sind endlich die letzten Kinder abgeholt. Ich habe den Gruppenraum wieder auf Vordermann gebracht und gehe jetzt mit meiner Jacke zum Ausgang. Aus dem Augenwinkel sehe ich Lucy vor dem Büro meiner Chefin sitzen.
„Lucy, was machst du denn noch hier? Hat dein Vater dich noch nicht abgeholt?“ Die Abholzeit ist bereits seit einer halben Stunde vorbei. Die kleine Maus ist den Tränen nahe.
„Daddy has forgotten me.“ Ihre Unterlippe zittert, doch sie versucht merklich, sich zusammenzureißen.
Ich hocke mich vor sie und lege meine Hand auf ihr Knie. „Lucy, das glaube ich nicht. Es gibt bestimmt einen Grund. Ich frage mal nach, ob Frau Schneider deinen Vater schon angerufen hat.“
Als ich den Kopf ins Büro meiner Chefin stecke, zeigt mir ihr Kopfschütteln, dass sie niemanden erreicht hat. „Das Handy von Lucys Vater ist scheinbar ausgeschaltet und auch ihre Großmutter, die als Notfallkontakt angegeben ist, hebt nicht ab.“
„Und jetzt?“, frage ich ratlos und lasse mich ihr gegenüber in den Stuhl sinken.
Frau Schneider wühlt sich durch Lucys Akte, auf der Suche nach weiteren Kontakten. „Keinen Plan, Nina.“
Achselzuckend sitzt sie mir gegenüber. „Du weißt, was die üblichen Schritte sind, wenn wir niemanden erreichen.“
Das weiß ich leider zu gut, auch wenn es bisher hier nicht vorgekommen ist. Wir sind verpflichtet, das Jugendamt zu informieren, die das Kind dann vorübergehend in ihre Obhut nehmen.
„Ich kenne Lucys Vater und kann sie nach Hause bringen“, platzt es aus mir heraus, bevor mein Gehirn die Chance hat, eine Verbindung mit meinen Stimmbändern herzustellen. Meine Chefin sieht mich verwundert an und wartet auf eine Erklärung.
„Er ist ein Teamkollege meines Bruders. Vom Football.“
Frau Schneider scheint skeptisch, aber erleichtert, dass sie sich nicht weiter mit Lucy herumschlagen muss. Sie nimmt mir das Versprechen ab, das Jugendamt zu informieren, falls ich bei Eric niemanden antreffe. Ich nehme mir einen von den liegen gebliebenen Autositzen aus der Abstellkammer und sammle Lucy ein.
Die Fahrt zu Eric vergeht, dank Lucys lebhaften Geplappers, wie im Flug. Sie kann mir sogar detailliert den Weg dorthin beschreiben. Als wir die Auffahrt zum Haus einbiegen, frage ich mich, worauf ich mich hier eingelassen habe. Was mache ich mit ihr, wenn wirklich etwas passiert ist? Und wie reagiere ich, wenn ich Erics Frau gegenüberstehe? Die ganze Aktion ist wenig durchdacht, aber ich habe wirklich nicht überlegt, als ich meiner Chefin den Vorschlag gemacht habe.
Im Vorgarten des dreistöckigen Hauses steht eine Frau Mitte 50, mit einer grünen Gartenschürze und den passenden grünen Handschuhen. Sie sieht verwundert zu, wie ich den Wagen parke. Als sie merkt, dass ich Lucy im Schlepptau habe, kommt sie uns gleich entgegen. Die springt gleich aus dem Wagen und rennt auf die Frau zu.
„Granny, Granny! Daddy has forgotten me.“ Lucy springt ihrer Großmutter in die Arme und klammert sich an ihr fest.
Ich strecke ihr meine Hand entgegen. „Hallo, ich bin Nina. Eine von Lucys
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