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Einem Tag in Paris

Einem Tag in Paris

Titel: Einem Tag in Paris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E Sussman
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eine Schauspielschule gehen. Ich könnte mich beim Theaterinstitut der University of California, bei der University of Southern California und für das Kunstprogramm der New York University bewerben. Ich habe mir schon die ganzen Unterlagen besorgt, und ich lese sie abends vor dem Einschlafen, und dann kann ich gar nicht einschlafen, so aufgedreht bin ich von diesem ganzen Zeug. Sie sollten mal lesen, was da steht. Ich meine, da geht es um das ganze Zeug, von dem Sie geredet haben, als wir mit dem Stück angefangen haben. Darum, in sich selbst zu forschen, um zu finden, was man in die Rolle einbringen könnte. Darum, seine Rolle zu lernen, als würde man auf eine ganz neue Art zu atmen lernen.«
    Er stand auf und ging zu einem der Fotos an der Wand.
    »Das ist cool. Das ist richtig toll. Haben Sie die aufgenommen?«
    »Ja. Im letzten Sommer.«
    »Sie sind toll. Sie sind echt die beste Lehrerin hier.«
    Er schnellte herum und sah sie an und ließ sich dann wieder auf den Stuhl fallen.
    »Sie müssen mit meinem Dad reden.«
    »Das glaube ich nicht, Brady.«
    »Doch. Sie könnten das so gut. Auf Sie würde er hören. Auf mich hört er nicht.«
    »Das ist nicht mein Job.«
    »Sie müssen ihm nur sagen, dass ich gut genug bin. Ich bin doch gut genug, oder?«
    Sie sah ihn an, und sie sah, dass er in diesem Augenblick schreckliche Angst hatte, dass er keine Ahnung hatte, ob er gut genug war.
    »Du bist gut genug, Brady«, sagte sie.
    Er schoss wieder aus seinem Stuhl hoch. »Dann müssen Sie mit ihm reden. Sagen Sie ihm das. Sagen Sie ihm, dass viele schlaue Kinder auf die Schauspielschule gehen.«
    »Ich weiß nicht, Brady«, sagte Josie. »Es ist keine so schlechte Idee. Was dein Dad will. Du kannst später immer noch Schauspiel studieren.«
    »Aber das ist das Einzige, was mir wichtig ist!«, rief er. »Verstehen Sie das denn nicht? Ich dachte, Sie würden es verstehen. Ich dachte, Sie würden mir hier helfen.«
    »Ich werde mit ihm reden«, sagte sie leise.
    »Bald«, sagte er. »Wir fliegen nächstes Wochenende hin, um uns Universitäten anzusehen. Er ist ganz begeistert davon. Zeit für eine Vater-Sohn-Beziehung. Er war nie da, und jetzt ist er auf einmal mein beschissener bester Freund.«
    Nico und Josie beginnen mit dem Aufstieg. Die Stufen des Turms winden sich um das Innere eines der Füße, des pilier ouest. Josie hat das Gefühl, im Inneren eines riesigen Baukastens zu sein. Es ist anstrengend – Josie ist froh, dass die Treppe nur bis zur zweiten Plattform führt –, danach müssen sie den Aufzug nehmen wie alle anderen auch. Sie sind allein in diesem Labyrinth aus Stahl. Einmal sprintet ein Jugendlicher an ihnen vorbei, wie aus einer Kanone von unten hochgeschossen. Auf einmal kommt sich Josie alt vor. Wie kann dieser Junge diese Treppe so hochstürmen? War sie vor drei Wochen nicht auch noch jung und sportlich?
    Durch die Eisenkonstruktion des Turms erhascht Josie immer wieder einen Blick auf die Stadt, auf die gewundene Seine auf der einen Seite und den langen Grünstreifen des Champ de Mars auf der anderen. Sie hat keine Höhenangst; sie ist nicht das kleine Mädchen aus ihrer Geschichte. Sie hat ihre Mutter verloren, aber sie erwartet weiß Gott nicht, sie hoch oben auf diesem Turm auf sie wartend zu finden. Ihr Vater hingegen könnte durchaus auf sie warten, im Fenster des Hauses ihrer Kindheit kauernd, mit dem erhellten Kronleuchter hinter ihm, auf die Straße starrend. Er wartet darauf, dass Josie nach Hause kommt. Vielleicht wird sie einen netten jungen Mann mitbringen, einen Freund. Das ist alles, was er will.
    Es ist lächerlich, denkt Josie. Nico hat sich irgendeine Art Therapie für sie ausgedacht, etwas, womit sie ihre Trauer austreiben kann, während sie ihre Beine antreibt. Na schön. Wenigstens haben sie aufgehört zu reden. Wenigstens hat er aufgehört, sie anzustarren wie ein hungriger junger Hund.
    Wenigstens trägt sie immer noch ihre Turnschuhe und nicht irgendwelche albernen Stöckelschuhe.
    Nico ist ein paar Stufen vor ihr, steigt mit festen Schritten höher. Als Nächstes wird sie noch herausfinden, dass er in seiner Freizeit ein Olympiasportler ist. Seltsam, denkt sie. Sie weiß nichts über ihn. Warum ist er Privatlehrer? Ist das eine Berufswahl oder etwas, das er nur tut, während er Gedichte schreibt? Früher war sie jemand, der neugierig auf andere Menschen war. Sie hat die Lebensgeschichten von Fremden in Flugzeugen und Bussen gesammelt. Heutzutage redet sie mit niemandem

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