Einer trage des anderen Schuld
zur seelischen Verkrüppelung genagt. Ihre Befreiung davon verdankte sie erstaunlicherweise ausgerechnet ihrem nächtlichen Abenteuer in den Gassen der Innenstadt, wo sie Arthur Ballinger beim Verkauf pornografischer Fotografien beobachtet und wo Squeaky sie zu guter Letzt gerettet hatte.
Bei Monks Eintreten maß sie gerade sorgfältig nach, wie viel in den jeweiligen Gläsern und Flaschen noch vorhanden war, und trug das Ergebnis in ein Notizbuch ein. Kerzengerade stand sie da, ein Lächeln im Gesicht. Als sie Monks Schritte hörte, drehte sie sich um. Nur ein kurzer Blick auf sein Gesicht war nötig, um zu erkennen, dass er bestürzt war.
»Was ist passiert?«, fragte Claudine sofort, stellte die Flasche, die sie in der Hand hielt, beiseite und klappte das Notizbuch zu. »Was ist los?«
»Hattie Benson ist verschwunden. Ich bin von einem Ende des Gebäudes zum anderen gelaufen und habe alle gefragt. Seit heute früh um neun hat sie niemand mehr gesehen.«
Mehrere Sekunden lang gab Claudine keine Antwort. Nicht, dass es ihr die Sprache verschlagen hätte! Vielmehr überlegte sie fieberhaft, was der nächste Schritt sein sollte.
»Wir müssen logisch analysieren«, sagte sie laut. »Sie wusste genau, dass sie nicht rausgehen darf. Sie hätte nie und nimmer Botengänge für andere erledigt, selbst wenn es nur um die Ecke gewesen wäre. Sie war klug genug, um Angst zu haben. Es führen keine Türen nach draußen, durch die Fremde unbemerkt hätten hereinkommen können. Haben Sie mit Squeaky gesprochen?«
»Ja«, antwortete Monk. »Er hat sie nicht weggehen sehen, und er ist den ganzen Vormittag vorn beim Eingang gewesen, zumindest, seit sie zuletzt gesehen wurde. Ich habe …«
»Ich weiß«, bestätigte sie mit beruhigender Stimme.
Er blickte in ihr freundliches Gesicht. Schön war es gewiss nicht, aber voller Kraft und – in diesem Moment – stillem Mut.
»Sie muss die Klinik durch den Hintereingang verlassen haben«, sagte Monk. »Das bedeutet, sie hat es geplant. Sie hat den anderen etwas vorgegaukelt, damit sie sie allein lassen. Warum? Was, um alles in der Welt, hat sie dazu veranlasst? Hat jemand sie bedroht? Wen haben Sie seit ihrer Ankunft aufgenommen?«
»Eine alte Frau mit hohem Fieber«, antwortete Claudine. »Sie deliriert und liegt wohl im Sterben. Und noch eine junge Frau mit Stichwunde und gebrochenem Schlüsselbein. Alle anderen sind gekommen und gegangen.«
Monk starrte sie an.
Claudine begriff. »Etwa eine von uns?«, ächzte sie. Einen Moment lang sah es so aus, als wollte sie etwas hinzufügen, doch dann überlegte sie es sich anders.
Monk sah ihr an, dass sie an Margaret dachte und gleichzeitig versuchte, das vor sich selbst zu leugnen. Er dachte genau dasselbe. Es musste irgendeine komplexere Erklärung geben, aber in diesem Augenblick würde auch diese nicht weiterhelfen.
»Ich versuche, sie möglichst schnell zu finden«, sagte er, auch wenn ihm ein Rätsel war, wo er anfangen sollte. Sollte er Hester informieren? Aber sie konnte auch nichts tun, außer sich selbst in Gefahr zu begeben.
»Wo wollen Sie suchen?«, fragte Claudine.
»Das weiß ich nicht. Wenn sie allein war oder der Person entwischt ist, mit der sie die Klinik verlassen hat, wird sie wahrscheinlich dorthin zurückkehren, wo sie sich auskennt. Das Einzige, was ich tun kann, ist herumfragen.«
»Kann ich helfen?«
»Nein … danke. Sagen Sie nur bitte Hester … noch nicht Bescheid.«
»Das wird gar nicht nötig sein«, erwiderte Claudine düster. »Sie wird es so oder so wissen.«
Monk verließ die Klinik, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Kaum war er im Freien, marschierte er los, so schnell er konnte. Dass es regnete, nahm er gar nicht wahr. Am liebsten wäre er gerannt, doch das hätte ihn nur erschöpft. Er musste seine Kräfte klug einteilen und durfte nicht nachlassen, bis er Hattie gefunden hatte.
Auf den Straßen befragte er Hausierer, zwei Frauen, die Streichhölzer und Schnürsenkel feilboten, und einen Straßenhändler, der heiße Schokolade und Sandwiches verkaufte. Letzterer hatte kurz vor halb zehn eine junge Frau mit blasser Haut und sehr blondem Haar in Begleitung einer etwas älteren braunhaarigen Frau die Leather Lane in Richtung Holborn hinuntergehen sehen. Sie waren zu Fuß unterwegs gewesen und hatten es eilig gehabt.
Die Situation war verwirrend. War das Hattie gewesen oder doch eine andere? Zusammen mit einer Frau? Wem? Er stand inmitten des Verkehrs, Passanten hasteten
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