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Einer trage des anderen Schuld

Einer trage des anderen Schuld

Titel: Einer trage des anderen Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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mit Hester hatte sich das etwas gebessert. Doch zu siegen war ihm immer noch ungemein wichtig. Rathbone konnte sich noch sehr gut an Monks Zorn erinnern, als er ihn im Prozess gegen Phillips vernichtend geschlagen hatte. Übte er jetzt Rache, auch wenn er sich dessen vielleicht gar nicht bewusst war? Setzte sich jetzt wieder der alte Monk durch, der Mann, der bis zu seinem Unfall überall gefürchtet worden war und den erst sein Gedächtnisverlust weicher und zugänglicher gemacht hatte?
    Er blickte Margaret an. Die Sanftmut war in ihr Gesicht zurückgekehrt.
    »Ich habe vor, ihn morgen über sämtliche Beweismittel auszufragen. Ich werde den Geschworenen vorführen, wie lächerlich diese sind. Rupert Cardew werden wir nicht schützen können.« Er seufzte. »Ich wünschte, er wäre nicht Lord Cardews Sohn. Armer Mann.«
    Sie berührte ihn mit den Fingern am Arm, und er spürte eine flüchtige Wärme. »Daran kannst du nichts ändern, mein Lieber. Wenn das Gesetz die Wahrheit ans Licht bringt, ist das eben grausam. Und wir können nichts tun, außer es mit Würde zu ertragen und in Treue zueinanderzustehen.« Sie lächelte noch einmal, dann wandte sie sich um. »Das Essen ist bald fertig. Du musst hungrig sein. Manchmal mache ich mir Sorgen um dich, wenn du in einem großen Prozess wie diesem steckst. Kümmerst du dich dann ausreichend um dein Wohlergehen?«
    Er folgte ihr zum Speisezimmer. Jetzt fühlte er sich wieder ruhig – bis ihm ein neuer Gedanke in den Sinn kam. Und dieser durchfuhr ihn mit solcher Wucht, dass er es körperlich spüren konnte. Was, wenn Monk derart verzweifelt darauf aus war, dem pornografischen Gewerbe auf dem Fluss ein Ende zu setzen, dass er so weit gehen würde, Ballinger für Parfitts Tod zu hängen – und zwar nicht, weil er an seine Schuld glaubte, sondern weil er wusste, dass er der Mann hinter dem Ganzen und damit auch hinter Phillips war? Ein Grund war so gut wie der andere, und vielleicht betrachtete Monk tatsächlich Parfitts Tod als das geringere Übel.
    Womöglich handelte es sich bei dem Mann, der den Mord begangen hatte, um einen windigen Dieb oder Erpresser wie Tosh Wilkin oder um eines von Parfitts Opfern? Am Ende doch Rupert Cardew? Und wenn das so war, zog Monk es womöglich vor, darüber hinwegzusehen, anstatt ihn dafür zu hängen, dass er die Welt von einem Monster befreit hatte, für dessen Tod alle dankbar sein sollten? Und wollte er deshalb in diesem Fall ein Auge zudrücken, weil er vorhatte, die Umstände dazu zu nutzen, Ballinger etwas anzuhängen, der in Monks Augen der Architekt des eigentlichen Verbrechens war?
    War Monk zu derart komplizierten Überlegungen fähig?
    Schon während er diese Frage in Gedanken formulierte, fühlte sich Rathbone versucht, sich diese Überlegung zu eigen zu machen. Wenn Ballinger tatsächlich dahintersteckte – unaufspürbar, seinen Häschern stets voraus, weil er einfach weiterziehen und woanders neu anfangen konnte –, würde sich dann nicht auch Rathbone dazu verleitet sehen, ihn wenigstens den Preis für das zweitrangige Verbrechen bezahlen zu lassen?
    Wer hatte Parfitt umgebracht? ’Orrie? Tosh Wilkin? Irgendeines seiner erbärmlichen Opfer, die er erst zu Geschlechtsverkehr und dann zum Missbrauch von Kindern verführt hatte, ehe er sie sich mit Erpressung gefügig machte? Es war ein sanfter Weg in die Hölle: leichtes Gefälle, jeder Schritt mühelos; man wurde eingeladen, nicht getrieben; nicht gejagt, nur geführt.
    Rupert Cardew?
    Margaret drehte sich um. Sie hatte gespürt, dass Rathbone nicht mehr hinter ihr war.
    Er beschleunigte seine Schritte und holte sie wieder ein. Im Speisezimmer verbreitete das Kaminfeuer eine angenehme Wärme, auch wenn es draußen noch nicht so kalt war, dass man hätte einheizen müssen. Und eigentlich hätte die behagliche Atmosphäre es Rathbone gestatten sollen, sich zu entspannen, an etwas anderes zu denken als an die Sorgen und Gefahren des nächsten Tages, doch das gelang ihm nicht. Am liebsten wäre er zu Bett gegangen und hätte sich schlafend gestellt. Er musste allein sein, weit entfernt von Margarets Ängsten und Familienbindungen. Aber wenn er sich zurückzog, würde er ihr den Grund dafür erklären müssen, und das würde alles nur noch schlimmer machen.
    Es kostete ihn unerträgliche Mühe, eine belanglose Konversation zu führen. Andererseits wusste er, dass Margaret ihn brauchte, aus ihm Kraft schöpfen musste, um der in ihr emporsteigenden Furcht entgegenzuwirken.

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