Einer trage des anderen Schuld
keine Angst zeigen, aber genauso wenig durfte sie ihm je das Gefühl vermitteln, es sei ihr egal.
Monk redete unterdessen weiter. Sie sah auf und erkannte in seinen Augen Besorgnis.
»Verzeih«, sagte sie sanft, »ich habe gerade nicht zugehört. Was hast du gesagt?«
»Willst du, dass ich mit Scuff spreche? Er muss es erfahren.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Du hast auch so schon genug zu tun. Du musst schlafen. Ich sage es ihm und bleibe bei ihm. Und wenn er weinen muss, können wir das dann zusammen tun.« Sie lächelte trotz der Tränen, die über ihre Wangen rannen. »Er wird das von mir erwarten, und es wird gut so sein.« Sie wandte sich zur Tür.
»Hester!«
Sie drehte sich zu ihm um. »Ja?« Sie nahm an, er wolle ihr danken, doch das wäre ihr nicht recht gewesen. Es war ja nicht so, als hätte sie ihm etwas geschenkt.
»Ich liebe dich«, sagte er leise.
Zittrig atmete sie ein und musste sich dazu zwingen, sich nicht an ihn zu klammern und ihren Tränen freien Lauf zu lassen. »Das weiß ich doch. Glaubst du, ich hätte sonst noch die Kraft, all das durchzustehen, was jetzt zu leisten ist?« Ohne auf seine Antwort zu warten, lief sie aus dem Zimmer, um Scuff zu wecken und ihm die Nachricht von Hatties Tod zu überbringen.
Wie immer klopfte sie zunächst an. Der Junge brauchte schließlich einen Ort, den ohne seine Erlaubnis niemand betreten durfte. Wie sie schon erwartet hatte, gab er keine Antwort. Also öffnete sie die Tür und trat ein. Das Nachtlicht brannte immer noch. In seinem Zimmer musste es auch in der Nacht stets so hell sein, dass er sofort wusste, wo er war, falls er aufwachte. Auf keinen Fall, nicht einmal einen Augenblick lang, sollte er noch einmal das Entsetzen erleben müssen, dem er während seiner Gefangenschaft im Stauraum von Jericho Phillips’ Boot ausgeliefert gewesen war.
»Scuff«, sagte Hester leise.
Der Junge rührte sich nicht. Sie betrachtete sein vom Kissen umrahmtes Gesicht, das zerzauste Haar, das nach dem Bad noch feucht war.
»Scuff«, wiederholte Hester, etwas lauter jetzt.
Er rührte sich, und als sie ihn zum dritten Mal ansprach, öffnete er die Augen und setzte sich auf, wobei er darauf achtete, das Nachthemd mit einer Hand zuzuhalten.
Sie ließ sich am Fußende seines Betts nieder. Sie konnte sein Gesicht im Lichtschein sehen.
»Was is’ los?«, fragte er, als er ihre Tränen bemerkte. »Was is’ passiert?« Auf der Stelle begriff er, dass etwas sie bekümmerte, und das machte ihm Angst. Hester ihrerseits tat es weh zu erkennen, wie sehr der Junge von ihr abhängig war.
»Hattie ist tot«, antwortete sie, bevor ihn irgendwelche Sorgen um Monk erfassen konnten. »Sie wurde ermordet. William hat es mir soeben erzählt. Er wollte es für sich behalten, bis er Klarheit darüber hatte, wie das geschehen konnte, aber dann ist es heute im Gericht bekannt geworden.«
Scuff blinzelte. »Jemand hat sie ermordet?« Er schluckte, dann streckte er seine kleine, dünne Hand aus und legte sie so leicht auf ihre, dass sie sie kaum spürte, sondern nur sah. »Weinen Sie nich’ um sie«, flüsterte er. »Bei ihr war klar, dass sie ein schlimmes Ende nimmt. So was bringt man besser schnell hinter sich, dann tut’s nich’ so weh. Das is’ wie bei ’nem kaputten Zahn. Den zieht man ja am besten auch gleich, weil er sowieso raus muss.«
Hester hätte ihn am liebsten an sich gedrückt, aber damit wäre sie zu weit in seinen Privatbereich eingedrungen. Nicht jeder ließ sich gerne umarmen.
»Du hast vollkommen recht«, sagte sie und war gleichzeitig wütend auf sich selbst, weil ihre Stimme zitterte. »Trotzdem muss ich wissen, wie sie die Kinik verlassen konnte und wer ihr dabei half. Verstehst du das?«
Scuff nickte, ohne sie auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Er war immer noch voller Angst. Wenn Hester das geringste Zaudern erkennen ließ, würden wieder all seine Zweifel über ihn hereinbrechen und seinen Mut ersticken.
»Glauben Sie, dass einer sie verschleppt hat?«, fragte er.
»Nein. Für wahrscheinlicher halte ich, dass sie hereingelegt wurde. Jemand hat ihr Sicherheit versprochen oder irgendeine andere Lüge aufgetischt. Ich will wissen, wer das war, weil ich solchen Leuten nie wieder mein Vertrauen schenken darf.« Klang das zu extrem? Als würde sie niemals Fehler verzeihen? Jagte sie ihm womöglich Angst davor ein, dass er für immer ihre Liebe verlieren würde, wenn er einmal einen Fehler beging? »Ich meine, wenn sie es absichtlich
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