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Einer trage des anderen Schuld

Einer trage des anderen Schuld

Titel: Einer trage des anderen Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Gedanke derart? War es einfach nur der Schmerz über den Verlust einer Illusion? Oder die Demütigung, im Unrecht zu sein? Oder das herzzerreißende Mitleid mit seinem Vater?
    Am nächsten Morgen war Hester früh in der Klinik und stellte erneut Fragen, mit denen sie so präzise wie nur möglich ermittelte, wann Hattie das Gelände verlassen hatte. Als sie danach draußen vor der Tür stand und in beide Richtungen schaute, herrschte Windstille. Am Himmel türmten sich schwere Wolken auf und kündigten Regen an. Wie immer strömten Passanten vorbei. Wer davon tat das jeden Morgen? Wer davon hatte regelmäßige Gänge zu erledigen? Zum Bäcker, in die Wäscherei, in die Arbeit?
    Um die Arbeiter der Brauerei Reid’s abzufangen, war es zu spät. Die hatten schon vor Stunden angefangen. Die Fabriken und Läden waren auch schon seit mindestens zwei Stunden offen. War vielleicht ein Straßenverkäufer unterwegs? Sie konnte keinen entdecken.
    Hester zog sich den Schal fester um den Hals und lief zur Leather Lane, wo sie in nördlicher Richtung abbog. Nach etwa hundert Metern kam ihr ein Zeitungsverkäufer entgegen, der lautstark die neuesten Nachrichten verkündete. Sehr zu seinem Missvergnügen hielt sie ihn an und fragte ihn, ob er Hattie gesehen hatte, die sie ihm so gut wie möglich beschrieb. Er wusste von nichts.
    Sie ging zur Kreuzung zurück und lief in südlicher Richtung fast bis zur High Holborn, aber auch hier hatte niemand eine junge Frau bemerkt, auf die Hatties Beschreibung gepasst hätte.
    Entmutigt, da Hatties Verschwinden wohl schon zu lange zurücklag, kehrte sie zur Leather Lane in den Schatten der Brauerei zurück und lief einmal mehr durch die Portpool Lane. Jetzt wollte sie es mit der Gray’s Inn Road an deren anderem Ende versuchen. Sie schlug eine nördliche Richtung ein und hatte fast schon die St. Bartholomew’s Church erreicht, als sie den Straßenverkäufer bemerkte, der Sandwiches feilbot. Sie blieb stehen und kaufte ihm eines ab, nicht nur, weil sie Hunger hatte, sondern auch, um mit ihm ins Gespräch zu kommen. Es musste schrecklich langweilig sein, den ganzen Tag allein dazustehen, nur hin und wieder ein paar Worte mit Fremden zu wechseln, in der Hoffnung, ihnen irgendwas zu verkaufen.
    Sie verzehrte das Sandwich mit Genuss. Es war wirklich sehr gut, und das sagte sie dem Mann auch.
    Er entblößte mit einem breiten Lächeln klaffende Zahnlücken und bedankte sich.
    »Ich arbeite hier gleich um die Ecke«, erklärte sie, den letzten Rest ihres Sandwiches in der Hand. »Portpool Lane.«
    »Ich weiß, wer Sie sind«, erwiderte der Straßenhändler.
    »Ach, wirklich?«, fragte sie erstaunt. Der Mann verwechselte sie wohl mit jemand anders.
    »Doch, doch! Sie nehmen Straßenmädchen auf, die krank sind oder zusammengeschlagen wurden.«
    Seiner Miene konnte sie nicht entnehmen, ob er das gut oder schlecht fand. Wie auch immer, es hatte keinen Zweck, es zu leugnen. »Das ist richtig. Und jetzt suche ich eine Patientin, die uns am Dienstag verlassen hat und seitdem verschollen ist. Sie ist immer noch ziemlich krank, und ich mache mir Sorgen um sie.« Hester war sich nicht sicher, wie ehrlich sie sein sollte. Panik stieg in ihr hoch, und sie musste sie mit Gewalt unterdrücken; sie durfte sich jetzt nicht von der Angst vor den Konsequenzen beeinflussen lassen, falls sie scheiterte. Aber vielleicht fürchtete sie sich fast ebenso sehr vor den Erkenntnissen, die sie im Falle eines Erfolgs gewinnen würde, Dinge, die sie dann nicht mehr ignorieren konnte.
    »Da würde ich mir keine Sorgen machen, Mädchen«, munterte der Straßenverkäufer sie liebevoll auf. »Sie wird hübsch schnell zurückkommen, wenn sie muss.«
    Einen Moment lang wusste Hester nicht, was sie als Nächstes tun sollte. Dann fischte sie zwei Drei-Penny-Münzen aus ihre r T asche. »Könnte ich bitte noch ein Sandwich haben? Der Schinken ist wunderbar.« Eigentlich war sie satt und wollte nichts mehr essen.
    Er reichte es ihr hocherfreut mitsamt zwei Pence Wechselgeld.
    »Ich glaube, sie weiß nicht, wie krank sie ist«, improvisierte Hester. »Manche von diesen Leiden sind ansteckend. Und ich fürchte, sie ist nicht allein geblieben. Jetzt könnten andere es von ihr bekommen.« Ihre Geschichte wurde immer verwegener, aber Hauptsache, sie gewann sein Interesse. »Am Ende vielleicht noch jemand mit Kindern! Wo Kinder doch so schnell krank werden!«
    Der Mann schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung, wie Sie die finden wollen. Auf der

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