Einer trage des anderen Schuld
spät getroffen? Mussten Sie denn Tag und Nacht nach seiner Pfeife tanzen?«
’Orrie erstarrte. »Bestimmt nich’! Ich war doch nich’ sein Scheißdiener! Dem is’ einfach was dazwischengekommen.«
Monk nickte, angestrengt darum bemüht, seine Ungeduld zu bezähmen und eine ermutigende Miene aufzusetzen. »Ein Treffen vielleicht, völlig unerwartet?«
»Genau!«
»Und er hielt es für wichtig genug, um gleich hinzufahren? Ist ja auch für ihn nicht gerade angenehm. War er wütend? Oder hatte er Angst?«
»Weder noch. Er hat sich gefreut.«
»Warum?«
’Orrie holte langsam Luft, blickte Monk an, erwog, was am vorteilhaftesten wäre, und entschloss sich zu antworten. »Na ja, jetzt is’ es egal; der arme Hund is’ schließlich tot, oder? Mickey dachte, das wär’ eine gute Chance, sich ein neues Geschäft zu angeln. Aber sparen Sie sich den Atem, und fragen Sie mich nich’, was für eins. Das weiß ich nämlich nich’.«
»Natürlich nicht. Ist er Sie persönlich holen gekommen, oder hat er Ihnen eine Mitteilung geschickt?« Monk fragte das bewusst in einem hämischen Ton. »Hat jemand sie Ihnen vorgelesen?«
»Ich hab sie selber gelesen!«, blaffte ’Orrie. »Bloß weil ich schieläugig bin, heißt das doch nich’, dass ich blöd bin.«
»Wirklich? Was haben Sie mit der Nachricht gemacht?«
’Orrie wühlte in seiner Hosentasche und klatschte einen verschmierten Zettel auf das Brett, das er gerade bearbeitete. Wütend blitzte er Monk an.
Dieser nahm den Zettel und las die überraschend säuberliche Handschrift.
»Hervorragende neue Geschäftsgelegenheit. Treffe Sie um Mitternacht auf dem Boot. Seien Sie pünktlich, sonst vermittle ich es Jackie.«
Darunter war in einer ganz anderen Schrift eine zweite Nachricht hingekritzelt worden: »Hol mich um halb zwölf am Kai ab. Komm nicht zu spät! Mickey.«
Monk betrachtete das Papier noch ein paar Sekunden länger und befühlte mit den Fingern seine Struktur. Es war von guter Qualität, blassblau und weich. Der Verfasser der ersten Nachricht hatte es von einem größeren Blatt abgerissen.
Schließlich drehte er es um und erkannte, dass die andere Seite Teil eines längeren Briefs oder eine Liste gewesen sein musste. Hierfür war Tinte verwendet worden, doch die Worte waren schwerer zu entziffern, fast so als wäre das Dokument in einer anderen Sprache verfasst worden, vielleicht Latein. Allerdings ließ sich aufgrund der Kürze des Textes nichts Genaueres erkennen. Jedenfalls zeugten die wohlgeformten Buchstaben von einer ordentlichen Handschrift. Er fragte sich, woher der Text stammen mochte.
»Danke, ’Orrie«, sagte Monk leise und ließ den Atem langsam entweichen. »Das ist so ziemlich perfekt.«
8
Die Anklage gegen Rupert Cardew wurde zurückgezogen, und er wurde aus der Haft entlassen.
Der Fall war wieder offen.
Monk stand in der Polizeiwache von Wapping, in der Hand den Zettel, den ihm ’Orrie gegeben hatte. Dies war ein zentrales Beweismittel, es fragte sich nur, gegen wen. Der Bleistift war verschmiert, sodass Teile nur schwer zu entziffern waren. Zudem ließen Verschmutzung und Fingerabdrücke keine Identifizierung zu. Die Nachricht hätte praktisch von jedem stammen können, der des Lesens und Schreibens mächtig war.
Monk war sich nicht einmal sicher, dass der Verfasser überhaupt der Mann war, der hinter der Erpressung steckte. Aber zu wem sonst wäre Parfitt noch so spät in der Nacht hinausgefahren? Jeden anderen hätte er doch gewiss aufgefordert, ihn zu einer passenderen Stunde aufzusuchen. Wen, außer jemanden, den er kannte und dem er vertraute, hätte er ganz allein in der Nacht auf dem Boot getroffen?
»Muss wohl so sein«, stimmte Orme ihm zu. »Aber es ist noch zu früh, sich auf einen bestimmten Mann festzulegen. Bewiesen ist doch nur, dass ihn irgendjemand dort hinausgelockt hat. Und wir wissen, dass es vorsätzlicher Mord war, der mit Cardews Halstuch begangen wurde.« Orme nahm den Zettel und drehte ihn in den Händen hin und her. »Haben Sie eine Vorstellung, von wem das stammen könnte?«, fragte er und versuchte, die Nachricht mit halb zusammengekniffenen Augen zu lesen, dann hob er den Blick wieder zu Monk.
»Nein«, antwortete Monk wahrheitsgemäß.
»Ballinger?«, fragte Orme.
»Möglicherweise. Parfitt wusste, von wem die Nachricht kam, sonst wäre er nicht rausgefahren. Offensichtlich kannte er den Mann so gut, dass eine Unterschrift gar nicht nötig war.«
Mit grimmigem Gesicht stand Orme im gelben
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