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Einer trage des anderen Schuld

Einer trage des anderen Schuld

Titel: Einer trage des anderen Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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wusste, geboren war, und das sich so sehr von der Üppigkeit und Leichtigkeit des Südens unterschied. Dort schien die Erde nur aus Knochen zu bestehen, ganz ohne Fleisch, und der Himmel wirkte schier endlos. Eines Tages würde er zurückkehren und sich ein Bild davon machen, ob das Land immer noch so schön war oder ob es nur die damalige Vertrautheit gewesen war, die ihre eigene Scheinrealität geschaffen hatte.
    Jetzt musste er den Spuren des Schmutzes und der Gewalt im Leben von Mickey Parfitt und all jenen folgen, die dieser Mann gekannt, benutzt, betrogen und verraten hatte.
    Es war Zeit, sich bis in die kleinsten Einzelheiten all dem zu stellen, was auf dem Boot geschehen war. Er hatte es immer wieder vor sich hergeschoben, vielleicht, weil er sich selbst ebenso wie die Opfer schützen wollte, doch jetzt musste er mit den Jungen persönlich sprechen – sanft und mit Nachdruck, aber auch unbarmherzig. Dazu benötigte er zwar die Leiterin des örtlichen Waisenhauses als Zeugin, damit die ganze Last nicht auf seinen Schultern allein ruhte, doch andererseits konnte er ihr diesmal nicht gestatten einzuschreiten. Erst jetzt begriff er, wie sehr ihm vor diesem Verhör gegraut und warum er beim ersten Mal Orme hingeschickt hatte, statt es selbst zu führen. Damals hatte er sich eingeredet, Orme wäre besser geeignet, weil er selbst Kinder hatte.
    Zwei Tage sanften, endlos wiederholten Fragens waren nötig, und sie schmerzten ihn tiefer, als er für möglich gehalten hatte. Die Heimleiterin starrte ihn an, als wäre er der eigentliche Erzschurke, aber sie griff nicht öfter als zwei-, dreimal ein.
    Seine Annahmen über Crumble erwiesen sich als zutreffend: Koch, Gefährte, Wäscher, Aufseher bei den Haushaltspflichten und Kerkermeister. Gelegentlich hatte er sich selbst am Missbrauch beteiligt, auch wenn die Jungen den Unterschied kaum erkannten. Ihre blassen, weichen und verängstigten Gesichter spiegelten mehr Elend als Zorn wider. Sie waren zu jung, um zu verstehen, dass ihr Leben dramatisch anders und viel schöner hätte sein können. Sie hätten vielleicht auch ohne Mickey Parfitt Hunger, Kälte und Erschöpfung kennengelernt, doch von dieser Art von Grauen hätten sie nichts gewusst. Sie hätten sicher schlafen können und bei Berührungen nur Zärtlichkeit erfahren oder in Ausnahmefällen eine Züchtigung, die in wohlmeinender erzieherischer Absicht erfolgte. Ihr ganzes Leben lang hätte ihnen nicht nur die Obszönität pervertierter Gelüste erspart bleiben können, sondern auch der Anblick von Männern, die andere verachteten, weil sie sich selbst zutiefst verachteten.
    Jetzt war es Monk, der von unerträglichen Träumen verfolgt wurde. In den Nächten wachte er schmerzverkrümmt, schweißgebadet und mit tränenüberströmtem Gesicht auf. Dann lag er in der Dunkelheit da, starrte hinauf zu den schemenhaften Schattenmustern an der Decke, während die Bäume draußen sich im Wind regten. Er wollte Hester wecken, auch wenn er ihr nicht sagen konnte, warum, nur um nicht mit all dem allein zu sein, was ihm durch den Kopf jagte. Selbst wenn er sie nur berührte, ihre Wärme spürte …
    Doch sie würde wiederum für ihn Schmerzen leiden. Um ihn zu verstehen, würde sie sich zumindest einen Teil der Alptraumbilder schildern lassen müssen – und wie konnte er ihr das antun? Wenn er dem Grauen Worte verlieh, würde er es in der Realität seines Bewusstseins wiedererstehen lassen: die weißen Gesichter, die verängstigten Augen, die kleinen Körper, die bei der Erinnerung aus Abscheu vor sich selbst und Angst vor neuen Schmerzen zu zittern begannen.
    Und sie würde dabei an Scuff denken. Sie würde über all diese armen Kinder grübeln, und es wäre egoistisch von ihm, von ihr zu verlangen, diese Bürde gemeinsam mit ihm zu tragen, nur um den Druck, der auf ihm lastete, etwas zu mindern.
    Hätte er ihr das alles überhaupt erzählen können, ohne zu weinen? Vielleicht nicht. Und sie konnte seine Wunde nicht heilen. Also musste er sie in seinem Inneren eingeschlossen halten. Hester würde immer wissen, dass sie existierte, denn auch sie hatte ja Phillips’ Boot gesehen. Sie brauchte wirklich nicht alles noch einmal aus seinem Mund zu hören, durch seine Augen zu sehen. Die Erinnerung war im Leben oft ein wertvolles Werkzeug, doch bisweilen auch ein Fluch.
    Selbst wenn er jetzt aufstand, würde er Hester wecken. Er konnte natürlich so tun, als wäre nichts, doch sein Schmerz würde erkennbar sein. Hester würde

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