Einer trage des anderen Schuld
Schein des Lampenlichts. Draußen frischte der Wind auf, und es begann zu regnen. Ihnen stand eine stürmische Überfahrt auf der Fähre bevor. »Muss der Mann sein, der hinter den Erpressungen steckt«, sagte er leise. »Diesmal müssen wir es einfach schaffen.«
Monk spürte, wie ihm heiß wurde. Soeben war die Erinnerung an eine fürchterliche Blamage zurückgekehrt. Orme hatte nie darauf angespielt, doch es war Tatsache, dass Monks schlampige Recherchen im Fall Jericho Phillips sie beide in größte Schwierigkeiten gestürzt hatten. Er hatte Rathbones Geschick und Glauben an die Prinzipien des Rechtswesens schlichtweg unterschätzt. Nach all den Jahren des Kampfes gegen das Verbrechen war er immer noch so naiv gewesen, seinen Emotionen freien Lauf zu lassen. Diesen Fehler durfte er nicht noch einmal begehen. Rathbone war sein persönlicher Freund, und er würde tiefes Mitleid für ihn empfinden, wenn Ballinger tatsächlich schuldig wäre, doch er selbst durfte nicht für einen Augenblick vergessen, dass Rathbone dann sein Feind wäre und im Kampf für seinen Schwiegervater sein ganzes Wissen und jeden ihm zu Gebote stehenden Trick einsetzen würde. So handelte er bei jedem Mandanten – es war seine Pflicht. Bei Margarets Vater würde er freilich bis an den Rand des Abgrunds gehen, wenn nicht noch weiter. Und würde Monk nicht dasselbe für Hester tun?
Orme schüttelte den Kopf. »Wir haben nichts außer Zufallsindizien«, warnte er. »Lauter Möglichkeiten, die keinen Geschworenen überzeugen. Vielleicht würden sie gar nicht erst für einen Prozess reichen.«
»Ich weiß«, murmelte Monk bedrückt.
»Ballinger ist ein hochangesehener Mann«, fuhr Orme fort. »Einer von ihnen sozusagen. Ein Anwalt. Seine Frau und seine Töchter werden auf der Galerie sitzen. Schön und gepflegt werden sie aussehen, und jeder wird merken: Die stehen hinter ihm und glauben jedes Wort, das er sagt. Und was haben wir? Gesindel aus der Gosse, dem man das auch sofort ansieht. ’Orrible Jones mit seinen Augen, die überall zugleich sind wie bei einem Pferd in Panik. Crumble, der so still und tückisch ist wie eine Schlange. Tosh Wilkin, ein Erzschurke, wie er im Buche steht. Hattie Benson, die eine Prostituierte ist und vor Angst vergeht. Und die den Eindruck erweckt zu lügen, sogar wenn sie die Wahrheit sagt.«
»Ja, gut!«, sagte Monk scharf. »Ich weiß es selbst: Wir haben nicht genug!«
»Wir haben den Fährmann Stanley Willington, aber der bestätigt bloß alles, was Ballinger selbst sagt: Hat ihn in Chiswick an Bord genommen, ans andere Ufer übergesetzt und wieder zurückgebracht. Und natürlich hat Ballinger auch noch Harkness auf seiner Seite, der beschwört, dass er die ganze Zeit bei ihm in Mortlake war. Das ist alles ungemein sauber und schwer zu erschüttern. Von Harkness wissen wir zwar, dass Ballinger ein guter Ruderer ist, aber wird Harkness das im Zeugenstand bestätigen, wenn ihm klar wird, was für Folgen es haben kann?«
»Wahrscheinlich nicht«, räumte Monk ein. Er nahm noch einmal den Zettel in die Hand, den Orme zwischendurch auf den Tisch gelegt hatte. »Wir müssen zusehen, dass das hier einen nachvollziehbaren Sinn ergibt. Der Mann, der Mickey Parfitt ermordet hat, hat das geschrieben, um ihn in den Tod zu locken. Na gut, Mickey hat das weiß Gott verdient.«
»Und ob.« Orme bedachte Monk mit einem entschlossenen Grinsen, und seine Augen verrieten Verständnis und eine Sanftmut, die man bei ihm vielleicht nicht unbedingt erwartet hätte. »Wir müssen den Mann aber trotzdem stellen.«
Wieder einmal fuhr Monk nach Chiswick, wo er mehr über das Boot und dessen Stammgäste erfahren wollte. Es war Ende Oktober und nun schon mehr als einen Monat her, seit man Mickey Parfitts Leiche am Corney Reach gefunden hatte. Es war merklich kälter geworden. Die letzten Echos des Sommers waren restlos verhallt, und das Laub fiel herab. Es hatte aufgehört zu regnen, doch in der Luft hing noch der Geruch nach Feuchtigkeit, und gelegentlich trieb Rauch von Kartoffelfeuern heran. Die späten Herbstblumen leuchteten in reichem Bronze und Lila, das schwerer und dunkler wirkte als das Blau und Gold des Frühlings. Die wenigen Stoppelfelder, an denen Monk vorbeikam, zeugten von eherner, fast barbarischer Schönheit und unverkennbar von Verfall.
Der Herbst war schon immer Monks Lieblingsjahreszeit gewesen. Bisweilen blitzten in ihm Erinnerungen an die wuchtigen, kargen Hügel von Northumberland auf, wo er, wie er
Weitere Kostenlose Bücher