Eines Tages geht der Rabbi
Amtsantritt schon mal mit Ihnen beraten, Rabbi? Haben Sie überhaupt schon mit ihm gesprochen?»
«Nein, aber –»
«Na, was sag ich?» triumphierte Kaplan. «Da wird einer Vorsteher der Gemeinde und setzt sich nicht mal mit dem Rabbi zusammen.»
Der Rabbi lächelte. «Wenn es mich nicht stört, warum sollten dann Sie daran Anstoß nehmen?»
Aber am nächsten Sonntag sprach Howard Magnuson ihn dann doch von sich aus an. Kurz nach Ende der Vorstandssitzung klopfte es, und Magnuson betrat das Büro des Rabbi.
«Ich habe bei den Vorstandssitzungen mit Ihnen gerechnet, aber dort lassen Sie sich offenbar nicht mehr sehen», sagte er und nahm auf dem Besucherstuhl Platz.
«Ich bin nicht gekommen, weil ich nicht eingeladen war.»
«Brauchen Sie eine besondere Einladung?» fragte Magnuson leicht ironisch.
«Es muß keine besondere Einladung sein – aber eine Einladung täte schon not.» Der Rabbi lächelte.
«Das verstehe ich nicht.»
«Sehen Sie, ich bin nicht Mitglied des Vorstands und strenggenommen nicht einmal Mitarbeiter des Tempels, deshalb nehme ich an den Vorstandssitzungen nur auf Einladung des Präsidenten teil. Meist fordert mich der neue Vorsitzende zu Beginn seiner Amtszeit auf, zu den Sitzungen zu kommen. Aber das ist durchaus nicht die Regel. Es gab Vorsitzende, die mich gar nicht oder nur zu der einen oder anderen Sitzung eingeladen haben, wenn Fragen anstanden, zu denen ich ihrer Meinung nach etwas Zweckdienliches sagen konnte.»
«Das wußte ich nicht. Ich bin ja neu in diesem Spiel. Gut, daß Sie es mir sagen. Dann lade ich Sie also hiermit ein, an den Vorstandssitzungen teilzunehmen.»
«Besten Dank. Ich werde versuchen, regelmäßig zu erscheinen.»
Magnuson lächelte. «Mir liegt nämlich Ihre Stellenbeschreibung noch nicht vor, sonst hätte ich daraus vielleicht ersehen, daß Sie an den Vorstandssitzungen nur auf besondere Einladung teilnehmen. Arbeiten Sie noch daran?»
«Nein, ich hatte nicht die Absicht, Ihnen eine Stellenbeschreibung zu geben. Ich habe Ihr Schreiben nicht auf mich bezogen, weil ich nicht bei der Synagoge angestellt bin.»
«Nein? Beziehen Sie nicht Ihr Gehalt von uns?»
«Doch, aber das ist mehr im Sinne einer Beihilfe. Ich bin Rabbi der jüdischen Gemeinde von Barnard’s Crossing und für die gesamte jüdische Bevölkerung da, ob sie nun Mitglieder der Synagoge sind oder nicht.»
«Sie sehen sich also als Berater, in der Art eines Wirtschaftsprüfers oder juristischen Beistands in einer Firma, nur daß Sie ein regelmäßiges Einkommen beziehen.»
«Ja, so ähnlich, allerdings mit dem Unterschied, daß die nur tätig werden, wenn man an sie herantritt, während ich von mir aus aktiv werden kann. Sollte der Vorstand etwas vorschlagen, was nach meiner Auffassung unseren Gesetzen oder unserer Tradition zuwiderläuft – die Entscheidung darüber liegt übrigens bei mir –, würde ich es verbieten.»
«Und was geschieht, wenn wir – das heißt die Synagogenverwaltung – uns über Ihre Weisungen hinwegsetzen? Verklagen könnten Sie uns wohl kaum.»
«Nicht bei einem weltlichen Gericht, aber ich könnte mich an ein Rabbinergericht wenden. Vermutlich würde ich mich aber von einer solchen Entscheidung lediglich durch meinen Rücktritt distanzieren. Bei einer Grundsatzfrage könnte ich Sie bei der Rabbinerverwaltung anzeigen oder die Sache vor der ganzen jüdischen Gemeinde zur Sprache bringen.»
«Das war mir neu. Aber so was geschieht wohl nicht oft, wie?»
Der Rabbi lächelte belustigt. «Nein, allerdings nicht. Es ist sehr selten.»
Magnuson sah den Rabbi fragend an. «Ist das alles oder gehört noch mehr dazu?»
«Sehr viel mehr. Ich habe die Oberaufsicht über die Schule und die Gottesdienste. Ich lehre in Vorträgen und Predigten unsere Tradition. Ich vertrete bei Kontakten mit der Stadt häufig die jüdische Gemeinde. Einmal habe ich auch Rabbinergericht gehalten und auf Grund des vorliegenden Beweismaterials in einer rein weltlichen Angelegenheit ein Urteil gefällt. Ja, und dann bin ich auch noch so etwas wie der hiesige Hort der Gelehrsamkeit. Dazu kommen die Dienstleistungen, die man normalerweise von einem Rabbi erwartet – Eheschließungen, Scheidungen, Konversionen, Beerdigungen.»
«Da haben Sie ja wirklich alle Hände voll zu tun, Rabbi.»
Neben Ironie lag in Magnusons Stimme auch ein gut Teil Respekt. «Schön, daß Sie mir das alles so genau geschildert haben. Damit haben Sie mir praktisch Ihre Stellenbeschreibung mündlich
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