Eines Tages geht der Rabbi
schüttelte den Kopf. «Das ist bei den jungen Leuten heutzutage nicht mehr üblich. Gewiß, als Kind ist sie zur Sonntagsschule gegangen, aber ich glaube nicht, daß davon viel hängengeblieben ist, obgleich sie ihre Großmutter mütterlicherseits sehr gern gehabt hat – und die Becks traditionsbewußter waren, als ich es bin. Meine Schwiegermutter hatte kein getrenntes Geschirr für Fleisch und Milchernes, sie war nicht fanatisch, vermutlich hätte ihre Köchin sich das auch gar nicht gefallen lassen. Aber wenn wir zum Essen hinkamen, hatte sie, wenn Fleisch aufgetragen wurde, nie Butter auf dem Tisch. Doch wenn wir Laura mitbrachten, bestand sie darauf, daß das Kind ein Glas Milch bekam. Ein bißchen widersprüchlich, wie? Sophia hat sie immer damit aufgezogen.» Er lächelte verlegen, offenbar dämmerte es ihm, daß ein Rabbi seine großzügige Auslegung der Essensvorschriften nicht so lustig finden mochte. Rasch wechselte er das Thema. «Haben Sie Kinder, Rabbi?»
«Zwei. Jonathan geht nächstes Jahr aufs College, und Hepsibah kommt in die Oberschule.»
«Machen sie Ihnen Ärger?»
«Natürlich. Dazu hat man die Kinder ja.»
«Wie soll ich das verstehen?»
Der Rabbi lachte in sich hinein. «Ich habe natürlich nur Spaß gemacht. Aber ich habe oft den Eindruck, daß die Unverheirateten und die kinderlosen Ehepaare in meinem Bekanntenkreis sich über einen fehlenden Hemdenknopf oder einen schmutzigen Aschenbecher oder etwas ähnlich Albernes ebenso aufregen wie ich, wenn eins meiner Kinder Fieber hat. Ich denke mir, daß jedem von uns sein Teil Kummer und Sorgen zugemessen ist, und wenn die Sorgen sich nicht auf etwas Sinnvolles richten können wie auf ein krankes Kind, kreisen sie eben um dumme, triviale Dinge. Ich glaube, Kinder geben uns ein Gefühl für Verhältnismäßigkeit.»
«Was für Ärger haben Sie denn mit ihnen?»
«Nichts Ernstes. Hepsibah ist in einem Alter, in dem die Meinung der Gleichaltrigen furchtbar wichtig ist, besonders was Garderobenfragen und die Wahl der einschlägigen Discos und dergleichen angeht. Aber das trifft hauptsächlich ihre Mutter. Und Jonathan macht sich Gedanken über seinen künftigen Beruf. Letztes Jahr wollte er Profi-Baseballspieler werden.»
«Ist er begabt? Dann könnte ich vielleicht was für ihn tun. Wie gesagt, mir gehört ein Baseballclub …»
Der Rabbi lächelte. «Das Angebot kommt zu spät. Dieses Jahr will er Gehirnchirurg werden. Allerdings weiß ich nicht genau, ob das noch der neueste Stand ist.»
«Verstehe. Aber versuchen Sie nicht, ihn in eine bestimmte Richtung zu lenken?»
Der Rabbi schüttelte den Kopf. «Die Weisen sagten, jeder Vater habe vier Pflichten seinem Sohn gegenüber. Er müsse ihn beschneiden lassen, ihn die Thora lehren, ihn ein Handwerk lernen lassen und ihn verheiraten. Der ersten Aufgabe bin ich natürlich nachgekommen, und die anderen drei Forderungen interpretiere ich großzügig. Eine geisteswissenschaftlich ausgerichtete Schulbildung ist wohl mit der Lehre der Thora zu vereinbaren, und ein Universitätsstudium sehe ich als einen möglichen Ersatz für ein Handwerk. Ich fürchte allerdings, daß er sich die Ehefrau nicht von mir aussuchen lassen würde.»
«Aber bei der Berufswahl – machen Sie da nicht Ihren Einfluß geltend? Würden Sie es gern sehen, wenn er Rabbi werden würde?»
«Nur wenn das seine eigene Entscheidung wäre. Es ist heutzutage nicht so einfach, Kinder zu lenken und zu leiten.»
«Mag sein. Ich versuche es trotzdem immer wieder. Aber ich bin wohl auch ein eher autoritärer Typ. Auch den Tempel gedenke ich zu lenken und zu leiten, ihn zu meiner Sache zu machen.»
«Und wie stellen Sie sich das vor?» fragte der Rabbi.
«Es ist mein Ziel, die Bedingungen für Arbeit und Gottesdienst zu verbessern. Und ich möchte mehr von unseren Leuten anlocken. Ich wünschte mir, daß alle unsere jüdischen Mitbürger Mitglieder unserer jüdischen Gemeinde werden.»
«Dagegen ist gewiß nichts einzuwenden», sagte der Rabbi unverbindlich.
«Und ich dulde in einem Unternehmen, das ich leite, keinen Streit.» Magnuson lächelte. Es war ein liebenswürdiges Lächeln, aber der Rabbi witterte in den Worten und in dem Lächeln etwas wie eine Herausforderung und eine leise Warnung.
13
Der Drucker nahm seine Brille ab, holte eine andere aus einem Fach des Rollsekretärs und besah sich das Foto, das Tony D’Angelo ihm hinhielt. Dann legte er es sorgsam weg und nahm das Blatt zur Hand, das Tony ihm reichte. Oben
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