Eines Tages geht der Rabbi
oder für sonstwas Hohes und Edles engagiert hat. Die Tatsache der Verhaftung impliziert schon, daß man um einer guten Sache willen leidet.»
«Hat er sich einen Anwalt besorgen können?» fragte der Rabbi.
«Erstaunlicherweise ja.»
«Was ist daran so erstaunlich?»
«Bei Strafsachen verlangen die meisten Anwälte eine Vorauszahlung. Er hatte kein Geld, jedenfalls nicht so viel. Ein Anwalt, der schon was für die Familie gemacht hat, hätte den Fall vermutlich auch so übernommen, aber die Kramers sind neu am Ort, und der Junge kannte hier niemanden. Dann fiel ihm ein, daß Jack Scofield mal bei Leuten gesprochen hatte, bei denen sie eingeladen gewesen waren. Er rief ihn an, und was soll ich Ihnen sagen – Scofield übernimmt den Fall. Fand ich sehr anständig von ihm. Ob er bei der Stange bleibt, ist eine andere Frage.»
«Warum sollte er nicht bei der Stange bleiben?»
«Zu mir hat Scofield natürlich nichts gesagt, aber nachdem er mit dem Jungen geredet hatte, hat er ein Gesicht gemacht … Na, ich hatte nicht den Eindruck, daß er besonders begeistert war. Vielleicht hat der Bengel ja versucht, drumrum zu reden, und so was ist immer heikel für den Anwalt. Die übliche Taktik ist in so einem Fall, die Tatsachen zuzugeben und sie so günstig wie möglich auszulegen. Daß das Opfer unvermutet aus dem Wald gekommen ist oder daß der Junge gehupt hat und D’Angelo in die falsche Richtung gehüpft ist. Der kann ja nichts mehr dazu sagen. Und daß er hinterher abgehauen ist – na, da könnte er ja sagen, daß er die Nerven verloren hat oder daß er heimgefahren ist und die Polizei anrufen wollte und plötzlich einen Blackout hatte. Also, da gibt es tausend Möglichkeiten. Aber wenn der Junge steif und fest behauptet, daß er das Haus nicht verlassen hat, fragt sich, was Scofield überhaupt für ihn tun kann.»
«Und was wird nun aus ihm?» fragte der Rabbi.
«Früher oder später, meinen Sie?»
«Nein, ich möchte wissen, wie es jetzt weitergeht. Er bekommt einen Haftprüfungstermin, ja?»
«Ganz recht. Am Montag vormittag. Wir werden, weil es sich um ein Tötungsdelikt handelt, beantragen, daß er weiter in Haft bleibt, oder werden zumindest eine hohe Kaution verlangen. Vermutlich wird der Richter ihn aber auf freien Fuß setzen, weil er studiert und kaum zu erwarten ist, daß er türmt. Das ist heutzutage so üblich. Wenn man sich’s recht überlegt, hat eine Kaution den Reichen nie weh getan, nur den Armen.»
«Ich würde gern mit ihm sprechen», sagte der Rabbi bittend, als erwarte er Widerstand.
Aber Lanigan stimmte sofort zu. «Gern. Vielleicht schaffen Sie es, ihn zur Vernunft zu bringen. Sagen Sie mir Bescheid, was Sie erreicht haben.»
30
«Ich bin Rabbi Small, ein Nachbar von Ihnen.»
«Ja, gesehen habe ich Sie schon mal.»
«Ihre Eltern haben mich am Freitag noch spätabends angerufen, weil sie Sie nicht erreicht hatten.»
«Und Sie haben Ihnen erzählt, daß ich verhaftet worden bin.» Pauls Ton war nicht ausgesprochen feindselig, ließ aber erkennen, daß er in der normalen Konfrontation der Eltern- und Kindergeneration den Rabbi zur Elternpartei rechnete.
Der Rabbi spürte die Einstellung des Jungen, machte aber keine Anstalten, ihn eines Besseren zu belehren. «Nein, das wußte ich zu der Zeit noch nicht. Sonst hätte ich es ihnen natürlich erzählt, sie haben ein Recht darauf, es zu erfahren. Aber daß Sie in Haft sind, habe ich erst in der Zeitung gelesen.»
«Und da sind Sie gekommen, um–»
«Um Ihnen zu helfen, soweit ich kann, und um herauszubekommen, was sich wirklich abgespielt hat, für den Fall, daß Ihre Eltern sich noch einmal bei mir melden. Wollen Sie mir erzählen, was geschehen ist?»
«Damit Sie es an die Polizei weitergeben können?»
Der Rabbi überlegte. «Wir sitzen hier nicht im Beichtstuhl. Würden Sie mir sagen, Sie hätten ein Verbrechen begangen, würde ich das selbstverständlich der Polizei melden. Aber da man dort ohnehin der Meinung ist, Ihnen sei eine Straftat hieb- und stichfest nachzuweisen, dürfte alles andere keine große Rolle spielen. Es würde mich persönlich interessieren, was passiert ist – und es wäre auch im Interesse Ihrer Eltern. Falls Ihre Eltern noch einmal anrufen, möchte ich die Sache so günstig wie möglich darstellen.»
«Überhaupt nichts ist passiert.»
«Na gut. Dann sagen Sie mir, was Sie nach der Abreise Ihrer Eltern gemacht haben.»
«Meine Eltern sind am Mittwochvormittag so gegen acht Uhr morgens
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