Eines Tages geht der Rabbi
geholt haben. Und es ist nicht nur dieselbe Glassorte. Die einzelnen Stücke passen zueinander wie in einem Puzzle. Aber er sagt, er hat sich den ganzen Abend und die ganze Nacht nicht aus dem Haus gerührt.»
«Vielleicht hat jemand anders seinen Wagen gefahren», meinte der Rabbi.
Lanigan schüttelte den Kopf. «Davon will er nichts wissen.»
«Ich meine ohne seine Erlaubnis.»
Wieder schüttelte Lanigan den Kopf. Diesmal griente er dazu. «Er schließt den Wagen ab, wenn er ihn stehenläßt. Und außerdem hat er noch so ein Patentschloß dran, mit dem man das Lenkrad blockieren kann. Da, wo er tagsüber meist parkt, auf der Huntingdon Avenue in Boston, in der Nähe der Uni, klauen sie offenbar wie die Raben.»
Der Rabbi nickte. «Das engt die Möglichkeiten erheblich ein, nicht? Das Opfer war zu Fuß unterwegs, ja? Wer war der Mann, und was hatte er mitten in der Nacht in der Glen Lane zu suchen? War es ein Vagabund oder –»
«Ja, das ist auch so eine Sache», meinte Lanigan. «Gerade hab ich mit dem Polizeichef von Revere telefoniert. Das Opfer war ein kleiner Gauner auf dem politischen Parkett. Der Chief meint, das Flugblatt, auf dem Baggio, einer der Kandidaten für den Senat, im Kreis von Gangstern auf einem Bankett zu sehen ist, hätte er in Umlauf gesetzt. Ja, und was er in der Glen Lane zu suchen hatte … Wir sehen das so, daß er auf dem Weg nach Salem war und plötzlich ein menschliches Rühren fühlte. Da ist er in die Glen Lane eingebogen, ist ausgestiegen und hat ein paar Schritte gemacht, um sich zu erleichtern.»
«Hm.» Der Rabbi dachte nach. «Ich kann auch verstehen, daß jemand, der über eine dunkle Straße wie die Glen Lane fährt, nicht mit Fußgängern auf der Fahrbahn rechnet …»
«Eben», sagte Lanigan. «Es ist denkbar, daß der Mann gerade in dem Augenblick aus dem Wald kam. Ich könnte mir sogar denken, daß ihn ein Tier erschreckt hat, ein Waschbär etwa, die gibt’s ja bei uns, oder ein Stinktier, daß er aus dem Wald gerannt kam und direkt in den Wagen hineingelaufen ist. Ein Unfall mit Fahrerflucht besteht gewissermaßen aus zwei Akten. Da ist zunächst der Unfall selbst, der durchaus keine Absicht zu sein braucht. Trotzdem gehen wir davon aus, daß der Fahrer sich leichtsinnig verhalten hat. Wenn er getrunken hat, gilt das natürlich in verstärktem Maße. Der gesunde Menschenverstand sagt einem, daß in manchen Fällen das Opfer selber schuld ist und auch der umsichtigste Fahrer einen Unfall nicht hätte verhindern können. Aber juristisch gesehen, liegt die Schuld zunächst mal beim Fahrer. Die Fahrerlaubnis wird automatisch suspendiert, und die Beweislast liegt beim Beschuldigten, also beim Fahrer, wenn er sie zurückhaben will.
Auch wenn das Opfer stirbt und es auffahrlässige Tötung hinausläuft, sind die Strafen meist drakonisch. Im allgemeinen wird man die Fahrerlaubnis nur für eine bestimmte Zeit los. Aber die Flucht nach dem Unfall – das ist eine bewußte Entscheidung des Fahrers, eine verbrecherische und tadelnswerte Handlung. Er läßt sein Opfer, das vielleicht Schmerzen hat und dessen Zustand sich mit Sicherheit verschlechtert, wenn es nicht sofort ärztlich versorgt wird, einfach auf der Straße liegen.»
Lanigan lehnte sich, die Hände im Schoß gefaltet, in seinem Sessel zurück und sah seinen Besucher ein paar Sekunden nachdenklich an. Dann richtete er sich wieder auf. «So weit, so gut. Wir holen uns also den Jungen, und ich sage ihm, was an Beweisen gegen ihn vorliegt, aber er wird weder schikaniert noch eingeschüchtert. Und er leugnet. Behauptet, er hätte in der bewußten Nacht das Haus nicht verlassen, und will einen Anwalt haben.»
«Das ist sein gutes Recht», sagte der Rabbi besänftigend.
«Klar ist es sein gutes Recht», bestätigte Lanigan. «Und nach den Miranda-Vorschriften würde ich seine Aussage auch gar nicht aufnehmen, ohne daß ein Anwalt dabei ist. Aber ich sage Ihnen, Rabbi, der Bengel ist kalt wie eine Hundeschnauze. Wenn ich in seinem Alter aus irgendeinem Grund auf dem Revier gelandet wäre, ich hätte das große Flattern gekriegt, und wenn ich noch so unschuldig gewesen wäre. Schon deshalb, weil ich mich immer gefragt hätte, was wohl meine Eltern dazu sagen würden. Aber eine Verhaftung, das ist für diese jungen Leute heutzutage ein Klacks. Sie reißen sich förmlich drum. Wer geschnappt wird, ist ein Held. Es ist ein Beweis dafür, daß man sich für Ökologie oder Bürgerrechte oder gegen brutale Polizeimethoden
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