Einfach göttlich
– obgleich sie in der Nähe blieben –, sondern auch Stille im Tempel schuf. Schließlich erklang die Stimme des früheren Exquisitors.
»Ah, Brutha. Vergeblich haben wir nach dir gesucht. Und jetzt bist du hier…«
Der Junge blieb kaum einen Meter entfernt stehen. Jenes seltsame Etwas, das ihn bisher angetrieben, ihn bis zu diesem Ort geführt hatte… Es verflüchtigte sich nun.
Jetzt gab es nur noch Vorbis.
Einen lächelnden Vorbis.
Der Teil von Brutha, der noch immer denken konnte, raunte nun: Niemand wird auf dich hören. Den anderen ist es völlig gleich. Es spielt keine Rolle, was du den Leuten über Ephebe, Bruder Murduck und die Wüste erzählst, denn es entspricht nicht der fundamentalen Wahrheit.
Die Welt wurde fundamental wahr, wenn Vorbis in ihr weilte.
»Stimmt was nicht?« fragte der angebliche Prophet. »Möchtest du etwas sagen?«
Die schwarzen Augen schienen anzuschwellen und sich in zwei tiefe Gruben zu verwandeln.
Bruthas Geist gab auf, und der Körper übernahm die Kontrolle. Er hob die Hand und holte aus, ignorierte die vorspringenden Wächter.
Vorbis drehte den Kopf, präsentierte ihm die Wange und lächelte erneut.
Langsam ließ Brutha die Hand sinken.
»Nein«, sagte er. »Einen solchen Gefallen erweise ich dir nicht.«
Zum ersten und letzten Mal sah Brutha Zorn in Vorbis’ Gesicht. Der Diakon war des öfteren wütend gewesen, aber immer nur dann, wenn er wütend sein wollte. Die entsprechenden Gefühle kamen aus dem zentralen Bereich des Selbst, ließen sich gewissermaßen ein- und ausschalten. Diesmal aber unterlag die Wut nicht der Kontrolle des Bewußtseins. Wie ein Schatten huschte sie über seine Züge.
Als die Wächter Brutha festhielten, trat Vorbis vor und klopfte ihm auf die Schulter. Er sah dem Jungen tief in die Augen und sagte leise:
»Verprügelt ihn so gründlich, daß er gerade noch am Leben ist. Und dann verbrennt ihn.«
Ein Iam wollte etwas erwidern, überlegte es sich jedoch anders, als er Vorbis’ Gesichtsausdruck bemerkte.
E ine Welt der Stille. Hier oben gab es nur ein Geräusch, das des Windes, der durch Federn flüsterte.
Von hier oben aus gesehen ist die Welt rund, umgeben von einem kreisförmigen Meer. Der Blick reicht von Horizont zu Horizont. Und die Sonne scheint nicht mehr so weit fort zu sein.
Trotzdem kann man ganz deutlich erkennen, was sich unten bewegt. Wenn er aufmerksam Ausschau hält und das Ackerland am Rand der Wüste beobachtet…
… insbesondere einen kleinen Hügel…
Etwas Kleines bewegt sich dort, ohne die Möglichkeit, sich zu verstecken…
Es rauscht nur der Wind im Gefieder, wenn der Adler die Flügel anlegt und wie ein Pfeil fällt. Die Welt dreht sich um jenes kleine Etwas, das sich unten bewegt und dem nun das Interesse des Adlers gilt.
Näher und…
… die Krallen ausstrecken…
… greifen…
… und wieder aufsteigen…
B rutha öffnete die Augen.
Sein Rücken schien nur noch aus Schmerzen zu bestehen, aber er hatte sich schon vor Jahren daran gewöhnt, solche Dinge einfach zu ignorieren.
Er lag, alle viere von sich gestreckt, Arme und Beine an etwas festgebunden, das er nicht sehen konnte. Oben wölbte sich der Himmel, und auf der einen Seite ragte die Front des Tempels auf.
Er drehte den Kopf ein wenig zur Seite und bemerkte eine stille Menge. Und das braune Metall der eisernen Schildkröte. Der Geruch von Rauch stieg ihm in die Nase.
Jemand zog die Ketten an der einen Hand fest. Brutha sah zum Inquisitor. Wie hieß es doch noch? Oh, ja…
»Die Schildkröte bewegt sich?« murmelte er.
Der Mann seufzte.
»Diese nicht, mein Freund«, erwiderte er.
D ie Welt drehte sich unter Om, als der Adler aufstieg – er wollte eine Höhe erreichen, die genügte, den Panzer einer Schildkröte zu brechen. Der Gott rang mit instinktiver Furcht. Gleichzeitig vernahm er Bruthas Gedanken: So kurz vor dem Tod waren sie hell und klar…
Ich liege auf dem Rücken, und es wird immer heißer, und ich sterbe jetzt…
Langsam, vorsichtig. Konzentration. Paß jetzt auf, forderte sich Om selbst auf. Gleich läßt das Biest los…
Er streckte den langen, dürren Hals so weit wie möglich aus, starrte zum Körper empor, der sich direkt über ihm befand, suchte nach einer bestimmten Stelle, fand sie, schob den Kopf zwischen den Krallen durchs Gefieder und biß zu…
Der Adler blinzelte. Es geschah zum erstenmal in der Geschichte der Evolution, daß eine Schildkröte dieses Verhalten einem Adler gegenüber an
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