Einfach göttlich
Brutha vermutete, daß der Alte hier irgendwo schlief.
Nicken, lächeln, winken.
Ein kleiner, wackliger Tisch stand neben einem Haufen aus Bohnenstöcken in der Sonne. Eine Strohmatte war dort ausgebreitet worden, und darauf lagen einige spitze Steine, zwischen zwanzig und dreißig Zentimeter groß.
Eine kompliziert wirkende Anordnung aus Holzstäben umgab sie und beschattete bestimmte Stellen der Steine. Kleine Spiegel aus Metall reflektierten das Sonnenlicht zu anderen Bereichen. In sonderbaren Winkeln montierte Papierkegel dienten offenbar dazu, den Wind zu kanalisieren.
Brutha hatte nie von Bonsai-Kunst gehört und wußte auch nicht, wie man sie bei Bergen anwandte.
»Sieht… hübsch aus«, sagte er unsicher.
Nicken, lächeln, nach einem Stein greifen, lächeln, reichen, reichen.
»Oh, das kann ich unmöglich annehmen…«
Reichen, reichen, lächeln, nicken.
Brutha nahm den kleinen Berg entgegen. Das Objekt zeichnete sich durch eine sonderbare Art von Schwere aus: Für die Hand fühlte es sich nach einem Kilo oder weniger an, doch die Vorstellung verlieh dem Gegenstand ein Gewicht von mehreren tausend kleinen Tonnen.
»Äh, danke. Vielen Dank.«
Nicken, lächeln, höflich fortschieben.
»Sieht, äh, wie ein Berg aus.«
Nicken, Grinsen.
»Aber das auf dem Gipfel kann unmöglich echter Schnee sein, oder?«
»Brutha!«
Ruckartig drehte er den Kopf, doch die Stimme erklang darin.
O nein, dachte der Novize betroffen.
Er drückte Lu-Tze den kleinen Berg in die Hände.
»Äh, bitte, bewahr ihn für mich auf, ja?«
»Brutha!«
Das war doch nur ein Traum, oder? Bevor ich so wichtig wurde, daß Diakone mit mir sprechen…
»Ein Traum? Von wegen! Komm und hilf mir!«
D ie Bittsteller duckten sich, als der Adler über den Platz der Klage segelte. Das große Geschöpf flog eine enge Kurve und ließ sich auf der Statue des Großen Gottes Om nieder, der die Ungläubigen unter seinen Hufen zerstampfte.
Es war ein prächtiger Vogel mit goldbraunem Gefieder und gelben Augen. Ein verächtlicher Blick glitt über die Menge.
»Ist das ein Zeichen?« fragte ein Alter mit Holzbein.
»Ja, ein Zeichen!« bestätigte eine junge Frau an seiner Seite.
»Ein Zeichen!«
Die Leute drängten sich an der Statue.
»Von wegen Zeichen!« erklang eine Stimme dicht über dem Boden, die allerdings völlig ignoriert wurde. »Das Biest hat Hunger – auf mich.«
»Aber ein Zeichen wofür?« fragte eine ältere Frau, die schon seit drei Tagen auf dem Platz weilte.
»Was soll das heißen, ›wofür‹?« erwiderte der Mann mit dem Holzbein. »Es ist ein Zeichen – nur darauf kommt’s an. Sich nach dem Warum und Wieso zu erkundigen… Solche Fragen künden von Zweifel und sind daher sehr verdächtig.«
»Es muß ein Zeichen für etwas sein«, erwiderte der ältere Mann. »Das Wort ›Zeichen‹ bezieht sich auf etwas. Es ist ein Dingsbums. Ein Bezugswort, jawohl.«
Eine dürre Gestalt erschien am Rand der Gruppe, bewegte sich mit verstohlener Zielstrebigkeit. Sie trug die Djeliba der Wüstenstämme, doch vom Hals reichte ein Riemen herab, an dem ein Tablett hing. Darauf lagen Objekte, die süß und klebrig aussahen.
»Vielleicht handelt es sich um einen Boten, den uns der Große Gott schickt«, spekulierte die Frau.
»Es ist ein verdammter Adler, weiter nichts«, grummelte eine verärgert klingende Stimme irgendwo zwischen den Bronzeornamenten, die unter den Hufen der Statue sterbende Ungläubige symbolisierten.
»Datteln? Feigen? Sorbette? Heilige Reliquien? Kleine Leckereien? Gebackene Eidechsen am Spieß?« fragte der Mann mit dem Tablett hoffnungsvoll.
»Wenn Er in dieser Welt erscheint, so kommt Er als Schwan oder Stier«, sagte Holzbein.
»Ha!« zischte die Schildkröte. Niemand hörte sie.
»Das hat mich immer gewundert«, sagte jemand weiter hinten. »Ich meine… Schwäne? Die können doch keine Gottlosen unter ihren, äh, Hufen zerstampfen, oder?«
»Für diese Blasphemie solltest du gesteinigt werden!« ereiferte sich die Frau. »Der Große Gott hört jedes schmähende Wort von dir!«
»Ha!« ertönte es unter der Statue. Der Bursche mit dem umgehängten Verkaufsbrett schob sich noch etwas näher. »Klatschianische Pralinen? In Honig eingelegte Wespen? Kauft sie, solange sie noch kalt sind!«
»Nun, wenn man sich’s recht überlegt…«, sagte der ältere Mann mit der Stimme, die viel Ausdauer verriet und mit jeder Menge Langeweile drohte. »Der Adler hat zweifellos etwas Göttliches. Der König
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