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Einfalt, Weisheit, Unglaeubigkeit

Einfalt, Weisheit, Unglaeubigkeit

Titel: Einfalt, Weisheit, Unglaeubigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gilbert Keith Chesterton
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in die Kirche, wobei er sich bekreuzigte wie einer, der sich von einem unreinen Geist befreien will. Es drängte ihn, diese Gemeinheit im kühlen Dämmerlicht seines hohen gotischen Kreuzgangs zu vergessen; aber an diesem Morgen war es vom Schicksal bestimmt, daß seine ruhige Runde religiöser Übungen überall durch kleine Zwischenfälle aufgehalten werde. Als er die Kirche betrat, die sonst zu dieser Stunde immer leer war, erhob sich hastig eine kniende Gestalt und kam auf das helle Tageslicht des Portals zu. Als der Kurat sie sah, blieb er erstaunt stehen. Denn der frühe Beter war kein anderer als der Dorftrottel, ein Neffe des Schmieds, der sich weder um die Kirche oder um sonst etwas kümmerte, noch das konnte. Man nannte ihn allgemein den ›Verrückten Joe‹, und er schien keinen anderen Namen zu haben; er war ein dunkler, starker, schlurfiger Bursche, mit einem schweren bleichen Gesicht, dunklem glattem Haar und einem immer offenen Mund. Als er an dem Priester vorbeikam, ließ sein mondkälbisches Aussehen keinen Hinweis darauf erkennen, was er getan oder gedacht hatte. Nie zuvor hatte ihn jemand beten gesehen. Welche Art von Gebeten mochte er nun gesprochen haben? Mit Sicherheit sehr ungewöhnliche.
    Wilfred Bohun stand lange genug wie angewachsen da, um zu sehen, wie der Blödsinnige in den Sonnenschein hinausging, wo ihn sein liederlicher Bruder mit onkelhafter Scherzhaftigkeit grüßte. Als letztes sah er, wie der Oberst Pennies nach dem offenen Munde Joes warf in der offenkundigen Absicht, hineinzutreffen.
    Dieses häßliche sonnenbeschienene Bild von Dummheit und Grausamkeit auf Erden ließ den Asketen schließlich zu seinen Gebeten um Läuterung zurück- und zu neuen Gedanken finden. Er stieg hinauf zu einem Kirchenstuhl auf der Empore unter einem farbigen Fenster, das er liebte und das seinen Geist stets beruhigte; ein blaues Fenster mit einem Engel, der Lilien trug. Dort dachte er bald weniger an den Schwachsinnigen mit dem fahlen Gesicht und dem Fischmaul. Dachte er bald weniger an seinen üblen Bruder, der in seinem schrecklichen Heißhunger wie ein magerer Löwe einherschritt. Er sank tiefer und tiefer in jene kalten und süßen Farben der silbernen Blumen und des saphirnen Himmels.
    An dieser Stelle ward er eine halbe Stunde später von Gibbs angetroffen, dem Dorfschuster, der in aller Eile nach ihm ausgeschickt worden war. Er sprang sofort auf, denn er wußte, daß keine Kleinigkeit Gibbs überhaupt an diesen Ort geführt haben konnte. Der Schuster war, wie in vielen Dörfern, Atheist und sein Erscheinen in der Kirche noch um einen Grad ungewöhnlicher als das des Verrückten Joe. Es war ein Morgen der theologischen Rätsel.
    »Was ist los?« fragte Wilfred Bohun ziemlich steif, während er eine zitternde Hand nach seinem Hut ausstreckte.
    Der Atheist sprach in einem Ton, der von ihm überraschend ehrerbietig klang und sogar so etwas wie ein rauhes Mitgefühl verriet.
    »Ich bitte um Vergebung, Sir«, sagte er in heiserem Flüstern, »aber wir meinten, es wäre nicht recht, es Sie nicht sofort wissen zu lassen. Ich fürchte, es ist etwas Schreckliches passiert, Sir. Ich fürchte, Ihr Bruder – «
    Wilfred ballte seine zarten Hände. »Welche Teufelei hat er denn jetzt begangen?« rief er in unwillkürlichem Zorn.
    »Nun, Sir«, sagte der Schuster und hüstelte, »ich fürchte, er hat nichts getan, und wird auch nie mehr etwas tun. Ich fürchte, mit ihm ist es ausgetan. Sie würden wirklich besser runterkommen, Sir.«
    Der Kurat folgte dem Schuster eine kurze Wendeltreppe hinab, die sie zu einem Ausgang brachte, der höher als die Straße lag. Bohun übersah die Tragödie mit einem Blick, unter ihm ausgebreitet wie eine Landkarte. Im Hof der Schmiede standen fünf oder sechs Männer, die meisten in Schwarz, einer in der Uniform eines Inspektors. Zu ihnen gehörte der Arzt, der presbyterianische Prediger und der Priester von der römisch-katholischen Kirche, der des Schmiedes Frau angehörte. Der Priester sprach im Augenblick sehr schnell und leise auf sie ein, während sie, eine herrliche Frau mit rotgoldnem Haar, blind schluchzend auf einer Bank hockte. Zwischen beiden Gruppen und gerade bei dem Haupthaufen von Hämmern lag ein Mann im Abendanzug, alle viere von sich gestreckt, flach auf dem Gesicht. Von seiner Höhe oben hätte Wilfred jede Einzelheit seines Anzugs und seiner Ausstaffierung beschwören können, bis hinab zu den Bohun-Ringen an seinen Fingern; der Schädel aber war nur noch

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